Leaving Lindi, never easy

Things change
Yet no one stays the same
Life’s just a dream we have
Of reality

(lamb)

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Heute ist der dritte Mai 2019, in etwa einem Monat werden wir nach zwei Jahren Lindi verlassen und nach weiteren vier Wochen Reise durch Tansania den Heimflug antreten. Bislang war mein Kopf gefüllt mit logistischen Fragen und mein Bewusstsein beschäftigt mit Anträgen, Bewerbungen und Bescheinigungen. Aber heute hat es mich erstmals so richtig getroffen!

Ich hatte zu einem Meeting mit den pädiatrischen Kollegen und dem Chef der Klinik („Medical Officer in Charge“) eingeladen und wir konnten zwei Stunden sehr offen sprechen: über meine Erfahrungen und Beobachtungen der letzten zwei Jahre, über Dinge, die sich weiter entwickelt haben und Probleme, die weiterbestehenden. Da sich in der neuen Projektphase der GIZ inhaltlich einige Verschiebungen ergeben haben – der neue Schwerpunkt lautet nun Digitalisierung des Gesundheitswesens – wird es vorerst keinen weiteren Entwicklungshelfer für Neugeborenengesundheit in Lindi mehr geben.

Nach dem Ende des Meetings, beim Verräumen der übrig gebliebenen Mandazi (Teiggebäck) wurde es mir plötzlich klar, als würde ein riesiges leuchtendes Schild vor mir auftauchen:

Wir werden das hier alles verlassen!

Menschen, die zu FreundInnen geworden sind. Ein Haus, bei dem endlich alles funktioniert. Eine Arbeit, bei der sich langsam Übersicht einstellte. Die wunderbaren Orte um Lindi herum, Kilwa, Mchinga, Mikindani. All die Strände. Poatenge. Mehr und mehr Einblick ins Suaheli. Den Freundeskreis der Kinder. Und natürlich die mit all dem verbundene Lebensart.

Wiebke ist dieses Gefühl des herannahenden Abschieds und Zurücklassens schon länger schmerzlich bewusst. Und seit heute merke auch ich ganz deutlich, was das bedeutet und kann sie mehr und mehr verstehen.

Unser Mwera-Bajaj

Nach einem grauen Regentag gestern ist es heute Morgen regelrecht kühl aber sonnig und ich sehe den indischen Ozean am Horizont glitzern. Philipp hat heute Vormittag für den Weg zur Arbeit ausnahmsweise das Auto genommen, weshalb ich zu Fuß von unserem Haus zur Hauptstraße herunterlaufe. Die in die Höhe geschossenen, mannshohen Gräser um mich herum leuchten grün und dampfen in der Morgensonne. Am Wegrand rechts von mir mümmeln die drei Kühe der Nachbarsfamilie ihre Tagesration Gras. Unten an der Hauptstraße angekommen sehe ich bereits mein Lieblingsbajaj mit Fahrer Mwera ankommen und halte ihn durch ein kurzes Winken an. Ich steige zu und wir begrüßen uns mit den üblichen Nachfragen nach Haus, Familie, Arbeit etc. An der nächsten Ecke steigt ein älterer Herr in der traditionellen Freitagstracht (kanzu) der Muslime ein. Mwera und ich sowie der dritte Fahrgast begrüßen ihn der Reihe nach respektvoll mit „Shikamoo“, sinngemäß „Ich bin unter deinen Füßen“ und weiter geht die gemütliche Fahrt. Und so sitze ich also im Bajaj und fahre mit gemütlichem Tempo am Meer entlang die sieben Kilometer bis Lindi und habe jede Menge Zeit, all dies jetzt schon ein bisschen zu vermissen.
(Wiebke)

Es ist diese doppelte innere Zerrissenheit, die den Abschiedsprozess so schwierig macht:

Einerseits freuen wir uns alle (bis auf Mats – der vermutlich kaum weiß, was ihn erwartet) sehr auf Deutschland mit seinem uns vertrauten Umfeld, seiner Planbarkeit und unseren FreundInnen und Verwandten. Andererseits wissen wir nicht, wie wir mit dem Eigenkulturschock (hier) klar kommen: wir haben uns an manche Andersartigkeit des tansanischen Alltagslebens, an eingeschränkte Warenverfügbarkeit, Kommunikationswege, Abläufe uvm. gewöhnt und wissen, dass vieles in Deutschland ganz anders läuft, was wir ja eigentlich kennen müssten, sich aber erstmal fremd anfühlen wird. Schon wieder eine neue Eingewöhnung.

Ähnliches verspüren wir beim Gedanken an Lindi: einerseits werden wir manche Dinge vermutlich wenig vermissen, neben den großen Themen (Schule) z.B. die abendliche AntiBrumm-Dusche der gesamten Familie, Ameiseninvasionen auf Grund kleinster Zuckerkrümel, das unzuverlässige Internet und das stundenlange monoton-aufdringliche Surren der Solar-Anlage bei Stromausfall. Andererseits gefällt es uns hier wirklich gut, wir haben uns mit viel Mühe einen Alltag und ein abwechslungsreiches Leben aufgebaut, kennen und genießen die vielen verschiedenen Strände, wissen, wo man in Lindi (meistens) Käse und Butter bekommt und im Garten gibt es eine BMX-Bahn, vier Katzen und immer Kinder zum Spielen. Wir haben uns ein Stück weit in diese so andersartige und interessante Kultur mit ihren eigenen Regeln eingelebt.

In zwei Monaten geht dieser große Lebensabschnitt für uns alle zu Ende, und in Erlangen wird ein neuer Lebensabschnitt beginnen, mit vielen Neuerungen: Ronja wird erstmals auf einer deutschen Schule mit der dritten Klasse weitermachen, Kalle wird eingeschult und Mats darf in die Fußstapfen seiner Geschwister im Waldkindergarten „Die Pfifferlinge“ treten und überhaupt erst einmal Deutschland kennen lernen. Unser Alltag wird nicht mehr annähernd so sein wie vorAfrika, aber das soll ja auch irgendwie so sein.

So ist in den letzten Wochen alles im Fluss: wir sind erfüllt von Erlebnissen, Erfahrungen und Gefühlen zwischen Freude und Trauer, machen uns diese Momente bewusst und halten uns offen für das, was in den nächsten Monaten und Jahren auf uns zukommen wird.

(P+W)

Zum Weiterlesen:

Artikel in der FAZ zum Thema: https://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/das-interesse-haelt-nur-fuenf-minuten-an-1304724.html

»The more that you read,
The more things you will know.
The more that you learn,
The more places you’ll go.«

Dr. Seuss

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Zanzibar im Dezember

Tonight, I’m gonna have myself a real good time
I feel alive and the world I’ll turn it inside out
Queen*

Am 8. Dezember 2018 fand die „Graduation“, soviel wie „Jahresabschlussfeier“, an Ronja´s Schule statt! Die SchülerInnen führten verschiedene Lieder und kleine Sketche auf, Sponsoren waren geladen und die neuen Erstklässler wurden geehrt.

festliche Familie

Im Anschluss an die Feier starteten wir gegen Mittag die 450 km lange Fahrt (Dauer aufgrund von sieben Polizeikontrollen, vielfältigen anderen Verkehrsteilnehmern und zahlreichen 50er Zonen: 7-8 Stunden) nach Daressalam, um nach einem kurzen Zwischenstopp dort am kommenden Tag nach Sansibar überzusetzen!

Nach sehr bewegten, herausfordernden wie bereichernden Zeiten in Lindi seit unserem Umzug hierher im April 2017 war dies der erste Familienurlaub seit ca. zwei Jahren! Wir hatten eine Familienhütte in der Ndame Lodge in Paje an der Ostküste gebucht und hatten eine richtig schöne Zeit mit tollen Schnorcheltouren, zwei Tagen in Stonetown, Strandspaziergängen, Kite Surfen (Philipp), nette Menschen aus aller Welt kennenlernen, Seaweed Farm besuchen, … Es folgen ein Einblick in Bildern und einige Infos für Interessierte!

 

Zanzibar“ ist streng genommen der Name des gesamten Archipels das aus Unguja, Pemba und rund 50 weiteren kleinen Inseln besteht. Die größte Insel dieser Gruppe ist Unguja, das als Sansibar bekannt ist. Unguja liegt 43 km östlich vom Festland und hat knapp 900 000 EinwohnerInnen. Die Bevölkerung ist zu 98% muslimischen Glaubens, was im Alltag nicht zu übersehen ist: Die Mehrheit der Frauen trägt buibuis(lange schwarze Gewänder) über der Kleidung. Auch die Männer zeigen sich in ihrer traditionellen Tracht – lange, weiße Hemden und verzierte Kopfbedeckungen (kofia). Fünfmal pro Tag hallt der Ruf zum Gebet über die Insel. Nachdem wir in Lindi einen sehr ähnlich geprägten Alltag erleben, war uns dies nicht richtig neu. Durchaus neu und teilweise befremdlich war zum einen die Existenz von Luxusresorts inmitten einer Umgebung, die von weitreichender Armut in der Mehrheit der Bevölkerung geprägt ist sowie die Durchmischung mit europäischen TouristInnen, die sich aus unserer Sicht unbeeindruckt zeigten von der unausgesprochenen aber allerorts leicht ersichtlichen Kleiderordnung.

 

An der Westküste liegt die Hauptstadt des Archipels, Zanzibar Town (ca. 350 000 EW), deren historisches Herzstück Stone Townheißt. Stone Town ist dem Meer zugewandt und wurde vor ca. 300 Jahren von Arabischen Siedlern aus Korallenstein erbaut – eine für Afrika untypische Bauweise. Durch die dichte, schattenspendende Bauweise installierten die Architekten sozusagen eine flächendeckende Klimaanlage. Die meisten Gebäude entstanden im 19. Jh., heute existieren kaum mehr als 40% der alten Bausubstanz im historischen Stadtkern, der 18 000 EW beherbergt. Wir waren zwei ganze Tage in Stone Town und hätten noch viele weitere Tage dort verbringen können. Überall ist etwas los, kleine Läden bieten von Zahnpasta über Obst, Gewürze, Souvenirs, Kleidung und Stoff eine bunte Mischung an und wir empfanden die Atmosphäre als freundlich und offen. Wir genossen Cappuccino und italienisches Eis und erfreuten die Menschen mit unseren Suahelikenntnissen und dem Satz „Tunatoka Lindi!“ – „Wir kommen aus Lindi!“ als Einleitung zu jeglicher Preisverhandlung. Besonders beeindruckend fanden wir die Bauten entlang der Meeresfront, dem vormals strategisch wichtigen Teil der Stadt, in der Nähe des Hafens.

 

Von Stone Town setzten wir einen Tag auch zu „Prison Island“ rüber. Zu Zeiten der Sultane gehörte die knapp 5 km vor Stone Town liegende Insel einem arabischen Sklavenhändler. Von der Insel konnten die Sklaven kaum fliehen, bevor sie auf dem Sklavenmarkt von Stone Town verkauft wurden. 1893 begann man mit dem Bau eines Gefängnisses, das aber nie als solches benutzt wurde. Stattdessen fungierte das Gebäude bis Mitte der 1930er Jahre als Quarantänestation, in der aus dem indischen Raum einreisende Menschen ein bis zwei Wochen zubringen mussten, bevor sie nach Stone Town weiterreisen durften. Heute ist die Insel bedeutsam als Heimat für 108 Aldabra-Riesenschildkröten, die 1920 als Gastgeschenk der Seychellen an den Sultan ins Land gebracht wurden und von denen die älteste heute 160 Jahre alt ist.

 

Eindrucksvoll in Erinnerung geblieben ist uns unser Ausflug zum Seaweed Center in Paje– gleich um die Ecke unserer Lodge. Für viele Frauen an der Ostküste ist der Anbau von Seetang eine wichtige Einnahmequelle. Von der Pflanzung bis zur Ernte vergehen zwei Monate. Die Frauen arbeiten ausschließlich bei Ebbe – egal, zu welcher Tageszeit nun gerade Ebbe ist. Je weiter draußen und tiefer gepflanzt werden kann, desto höher ist der Ertrag. Nach der Pflanzung an Stäben, die mit Schnüren miteinanderverbunden sind, muss der Unterwassergarten regelmäßig gepflegt und von Unkraut befreit werden. Wenn der Seetang reif ist wird er abgerissen und in großen Körben an Land gebracht. Nach dem Pflücken werden die salatgrünen Pflanzen, die man so wie man sie aus dem Meer holt auch essen kann, getrocknet und in Bündeln verpackt für den Abtransport fertig gemacht. Was auf den ersten Blick nach einem guten Geschäft für die Frauen aussieht ist oftmals ein Verlustgeschäft. Es fehlt die Möglichkeit zur Weiterverarbeitung und Wertschöpfung auf Sansibar, wodurch entscheidend größere Einkommensmöglichkeiten für die Frauen entstehen könnten. Es mangelt an Infrastruktur (z.B. Strom), Maschinen und Know How. Ein Kilogramm Seetang-Pulver, das aus 5 kg Seetang hergestellt werden, könnte für den fünffachen Preis des Rohproduktes verkauft werden. Seetang-Pulver wird zum Anreichern von Kuchen, Säften, Salaten und Suppen verwendet und auch als Fleischersatz gegessen.

Das Seaweedcenter in Paje vereint 13 Seaweed Frauen in einer Kooperative und verarbeitet den Seetang in der hauseigenen Produktionsstätte. Seaweed wird hier zur Herstellung von Körperpflegeprodukten verwendet, die vor Ort verkauft und an Hotels auf Sansibar geliefert werden. Wir haben das Seaweed Center besucht, durften mit einer der Frauen auf ihre Farm gehen und im Anschluss die Herstellung besuchen. Die Frauen dort berichten von ihrer größten Sorge zurzeit: Der Anstieg der durchschnittlichen Temperatur des Meerwassers ist ein großes Problem für den Seetang und führt zu niedrigeren Erträgen.

 

Vor der Rückfahrt nach Lindi erstanden wir am 22.12.2018 bei 36°C und mindestens 98% Luftfeuchtigkeit bei einem  Pflanzenhändler an der Straße in Daressalam unseren Weihnachtsbaum.

Links zum Weiterlesen:

Beitrag zum Seaweed Farming auf Sansibar: https://www.dw.com/en/zanzibars-seaweed-industry-at-risk/av-38816531

Seaweed Center Paje: https://www.youtube.com/watch?v=0-5QgfQp4b4

Unser Weihnachtsbaum 2018

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Supportive Supervision im Hinterland – was mache ich hier eigentlich

And at once I knew I was not magnificent
High above the highway aisle
(Shake it, fake it, stick with us)
I could see for miles, miles, miles

(Bon Iver)

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Lindi Region. Gelb: Asphalt. Rot: Sandpiste.
Hinterland

Hinterland*

Tock-Tacka-Tock-Tacka-Tick. Und dann nichts mehr. Die plötzliche Stille lässt mich aus dem Schlaf erwachen, ich komme langsam zu mir und stelle beunruhigt fest, dass unser Fahrer Onsemo mitten im Nichts auf der Sandpiste angehalten hat und hinten etwas an der Ersatzrad-Halterung betrachtet.

Doch die Entwarnung kommt schnell: alles in Ordnung, „haina shida!“und wir können weiterfahren auf unserer Supportive Supervision durch die ganze Region Lindi. Die monotone Geräuschkulisse des Nissan Patrol Jeeps auf der löchrigen Straße, mit all dem Klackern und Knarzen, monoton unterlegt vom tiefen Brummen des V8-Motors, lässt mich wieder weiter dösen. Im somnolenten Halbschlaf sehe ich durchs Fenster endloses Grün an mir vorbeiziehen, vereinzelt unterbrochen durch verstreute Häuser und kleine Dörfer, in überwiegend braun-roter Erdziegel-Farbe und mit Palmblätterdächern. Wellblech ist hier selten. Kurz nach dem Ende der kleinen Regenzeit zum Anfang des Jahres wirkt es so, als schießt und sprießt die Natur innerhalb von wenigen Tagen in einen Dschungel aus Grüntönen. Riesige Mangobäume mit wie gezeichnet wirkenden Baumkronen, knorrige Cashewnuss-Bäume und unendlich viel Buschwerk aus Farnen und hohem Gras. Immer wieder stehen im hohen Gras am Straßenrand Frauen, mit faltigem Gesicht und gegerbter Haut, oft eingerahmt durch eine aus buntem Kitenge kunstvoll gefaltete Kopfbedeckung; auf dem Kopf Wassereimer oder gesammeltes Feuerholz. Durch meine Perspektive mit Blick durch das Autofenster wirkt es, als schweben sie in Zeitlupe vorbei, umrahmt vom Grün des Grases. Ich muss an die Bambus-Sequenz von „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ denken und lächle.

Normalerweise ist nicht viel los auf der Straße, die allenfalls doppelt so breit ist wie unser Auto; meist treffen wir auf schaukelnde kleine Busse, alte Fahrräder, mit Kohle, Hühnern oder Obst beladen, und sporadische Motorrad-Taxis, die Fahrer meist in dicke Winterjacken gehüllt. Diesmal kommt uns ein Konvoy aus Militärlastwagen entgegen, die vermutlich in Liwale in staatlichem Auftrag die Erzeugnisse der diesjährigen Cashewnuss-Ernte eingesammelt haben (Zusammenfassung hier, Hintergründe hier, Interview hier). Ich fühle mich an die Atmosphäre von Agentenfilmen aus den 70ern erinnert und bin froh, als der Konvoy vorbei ist.

* der Begriff „Hinterland“ hat auch eine kolonialistische Konnotation („Teil des Landes, in dem die Staatsgewalt bereits Zugriff hat, ohne aber rechtmäßig bereits unterworfen zu sein“). Von dieser Bedeutung nehmen wir Abstand und beziehen uns ausschließlich auf den humangeographischen Kontext (siehe hierzu Glaser, R. et. al, 2016: Gegraphie: physische Geographie und Humangeographie, Berlin) 

Arbeiten als Entwicklungshelfer – Lokal, Regional, National

Als wir uns entschieden haben, für zwei Jahre nach Afrika zu gehen, kannte ich zwar die Berichte meiner beiden Vorgänger, wusste aber nicht, was mich beruflich in dieser Zeit erwarten würde. Ich wusste nur, dass ich in der Qualitätsverbesserung der medizinischen Versorgungvon Müttern und Neugeborenen tätig sein werde. Nun, nach knapp 2 Jahren, ist es Zeit geworden zu beschreiben, was ich mache, und was für Konzepte dahinter stehen.

Generell würde ich die Lage der medizinischen Versorgung als schwierig, aber durchaus in Entwicklung beschreiben. Dem/r westlich geprägten LeserIn wird es schwerfallen, sich vorzustellen, mit welchen Problemen GesundheitsmitarbeiterInnen hier konfrontiert werden. Zuerst ein paar Zahlen der Region: in der gesamten Region Lindi leben etwa 900.000 Menschen, davon sind 45% jünger als 15 Jahre. Es gibt ein Regionalkrankenhaus in Lindi, 5 Distrikt-Hospitäler und zwei kleine kirchliche Häuser. Im Jahr 2017 wurden in diesen 8 Krankenhäusern 13.812 Kinder geboren (Life Birth), von denen 254 Neugeborene innerhalb der ersten 7 Tage verstarben (Early Neonatal Mortality Rate 18,4 pro 1.000 Kinder). Gleichzeitig starben 26 Mütter vor, während oder nach der Geburt (Maternal Mortality Ratio 188 pro 100.000 Lebendgeburten; Zahlen aus Erhebungen der GIZ).

Von Seiten der Betreuung gibt es Probleme im Personalbereich – so sind zur Zeit in der Region Lindi etwa 60% der geplanten medizinischen Stellen nicht besetzt. Die Ausbildung ist weniger professionalisiert und die meiste ärztliche Arbeit wird von Clinical Officers (kurz CO, 3 jährige Ausbildung) geleistet. Medical Doctors (kurz MD, 5 Jahre Studium) gibt es selten. Die meisten Krankenschwestern sind Medical Attendants (einjährige Ausbildung) oder Enlisted Nurses (EN, 2 Jahre Ausbildung mit Zertifikat), Registered Nurses (RN, Krankenschwester mit Abschluss, mindestens 3 Jahre Ausbildung) gibt es kaum. Spezifische Fachweiterbildungen gibt es nur in Dodoma und Daressalam, Medical Specialists (Fachärzte) in der Region aktuell genau vier, eine Gynäkologin, einen Chirurgen, einen Pädiater und mich.

Schwierig ist auch der Materialfluss: es fehlt an vielen Dingen wie Verbrauchsartikel (Spritzen, Kanülen, Sauerstoffbrillenschläuche), bestimmte Medikamente gehen häufig zur Neige und Nachschub verzögert sich(spezielle Antibiotika, Krampfanfall-Mittel). Automatisches Nachfüllen der Stationslager findet nicht statt.

Strukturell sind die eigentlichen Krankenhausgebäude zwar stabil, aber meist zwischen 20-40 Jahre alt und abgenutzt. Platz ist oftmals nicht ausreichend, es fehlt an Sitzmöglichkeiten und Betten. Keine einzige Neugeborenenstation bietet die Möglichkeit, infektiöse und nicht-infektiöse Kinder zu trennen.

Meine Arbeit als Entwicklungshelfer hat drei große Bereiche: ich arbeite lokal in meinem Regionalkrankenhaus in Lindi mit dem Kreißsaal und der Neugeborenenstation zusammen. Hier bin ich praktisch als Arzt auf Station tätig („hands-on“), begleite Visiten, mache Bedside-Teaching und sammle gleichzeitig Ideen zur Verbesserung von Abläufen und Strukturen.

Auf nationaler Ebene war ich an der Entwicklung der ersten landesweit gültigen Guideline für Neugeborenenmedizin beteiligt, einer Art Leitliniensammlung für die Behandlung von Neugeborenen. Hierfür gab es über 12 Monate immer wieder Treffen mit VertreterInnen des Gesundheitsministerium, der WHO und der Universität Muhimbili, bei denen ich neben dem Schreiben einiger Kapitel vor allem zum didaktischen Aufbau der Guideline beitragen konnte.

Regional unterstütze ich die gesamte Region Lindi, also die 5 Distriktkrankenhäuser (und die beiden kleinen kirchlich getragene Hospitäler) bei der Verbesserung der Schwangeren- und Neugeborenen-Versorgung. In der Umsetzung sind das so konkrete Dinge wie Weiterbildungen für Ärzte und Schwestern oder die Entwicklung neuer oder verbesserter Tools zur Patientendokumentation (Aufnahmebögen, Patientenkurven).

Schwerer fassbar ist die Beratung des regionalen Gesundheitsmanagement-Teams (RHMT, Regional Health Management Team), die als Fachleute von der Regierung eingesetzt werden, um die Qualität der Versorgung zu sichern, also beispielsweise Medikamentennachschub und Gerätschaften organisieren, aber auch Personalentscheidungen treffen und Teile des Budgets verwalten. Ich nehme regelmäßig an Treffen des Teams teil, vor allem der RRCHCo (Regional Reproductive Child Health Coordinator, verantwortlich für Mutter/Kind-Gesundheit) und des RMO (Regional Medical Officer, medizinischer Regionalleiter, in etwa Landesärztekammerchef plus Landesgesundheitsamtleiter). Hierzu gehört auch die Planung und Durchführung der regionalen MPDSR-Meetings, bei denen sich Ärzte und Schwestern aller Hospitäler treffen und mit Hilfe der systematischen Aufarbeitung von Todesfällen (Schwangere vor/während/nach der Geburt und Neugeborene) vermeidbare Fehler identifizieren und Verbesserungskonzepte erarbeiten (MPDSR = Maternal and Perinatal Death Surveillance and Response, siehe hier und für Tansania hier). Zuletzt hielt ich bei einer politischen Veranstaltung einen Fachvortrag, als die Kampagne „Jiongeze tuwavushe salama“ (Artikel im Citizen, Original-Tweet zu meinem Vortrag hier, Youtube-Beitrag zur Veranstaltung hier) zur Reduktion der Sterberate von Müttern und Säuglingen in der Region gestartet wurde.

Supportive Supervision liegt irgendwo zwischen diesen beiden Polen der regionalen Arbeit, Beratung und konkreten Dingen.

Krankenhaus von Ruangwa

Ruangwa

Wir sind den zweiten Tag unterwegs. Gestern waren wir in aller Herrgottsfrühe in Lindi gestartet, um noch vor 9:00 Uhr am Distriktkrankenhaus in Ruangwa ankommen zu können. Aus Ruangwa stammt auch der aktuelle Premierminister Tanzanias, Kassim Majaliwa, und die Stadt erlebt einen Aufschwung: es gibt nun eine neue, sehr schicke Lodge, ein neues Einkaufszentrum mit grasverziertem Vorplatz und eine englische Schule. Die Straßen wurden ausgebaut und durch den berühmten Sohn der Stadt kommen mehr Gäste. Nur die 2-3 Stunden Sandpiste bis zur Hauptstraße dämpfen ein bisschen. Dafür ist die Strecke sehr abwechslungsreich, es geht durch eine hügelige fruchtbare Landschaft mit vielen Flüssen und im kleinen Dorf „Nkowe“ auf halber Strecke, zeugt eine große katholische Kirche von der Aktivität der europäischen Missionare des späten 19 Jahrhunderts.

Meist gehe ich auf der Fahrt meine alten Aufzeichnungen der letzten Meetings und die Zahlen der letzten Monate durch und bereite mich auf die bevorstehende changa moto (wörtlich übersetzt „heißer Sand“, dem Sinn nach„Herausforderung“) vor – der Zugriff auf Notizen und Daten funktioniert durch Tablet, Pen und viel Synchronisierungsarbeit inzwischen fast vollständig papierlos, auch wenn Schreiben beim Fahren auf dieser Buckelpiste nicht möglich ist.

Das Krankenhaus in Ruangwa hat gute Fortschritte gemacht, seitdem hier 2016 eine Neugeborenen-Station aufgebaut worden war. Ich bin jetzt zum vierten Mal hier, inzwischen kenne ich die Teams von Kreißsaal und NCU, zuletzt hatten wir uns alle bei einem politischen Treffen mit dem Regional Commissioner (RC, eine Art Ministerpräsident der Region) gesehen. Die Stimmung bei der Klinikleitung ist gut, in den letzten Monaten kam es zu einem Rückgang der mütterlichen Todesfälle, und die Versorgung mit Medikamenten und Ausrüstung funktioniert.

Nach der offiziellen Vorstellung begeben wir uns in den Kreißsaal und lesen uns durch das Geburtenbuch. Hier werden alle Informationen über Mütter und Kinder gesammelt, inklusive Geburtsgewicht, APGAR-Werten und möglichen Komplikationen. Das Buch ist sehr gut geführt. Auch der eigentliche Kreißsaal hinterlässt einen positiven Eindruck, die Standard-Behandlungsrichtlinien (SOPs, Standard Operational Procedure) hängen an den Wänden und inzwischen gibt es auch einen zweiten Paravent als Sichtschutz zwischen den insgesamt fünf Geburtsliegen.

In der Neugeborenenstation finden wir einen neuen Kollegen, der die Station auf Grund von Schwangerschaft der vorherigen Ärztin heute den zweiten Tag betreut. Er ist ein erfahrener Kollege und behält die Übersicht.

Ich untersuche ein zwei Tage altes Neugeborenes, das – so erzählt man mir – in einer Gesundheitsstation (Dispensary) geboren wurde und bei „Problemen nach der Geburt“ nach einigen Stunden in das Krankenhaus überwiesen worden war. Das Baby liegt in einem Wärmebettchen, bekommt Sauerstoff über eine Nasenbrille, Muttermilch über eine Magensonde und ist an ein Pulsoxymeter angeschlossen. Dort sehe ich eine Sauerstoffsättigung von 92% bei einer Herzfrequenz von 175/min. Das Baby atmet sehr schnell und bewegt sich insgesamt wenig, die Haut ist deutlich überwärmt, aber rosig. Ich vermute eine perinatale Asphyxie (Sauerstoffmangel bei der Geburt), was mir durch den schlaffen Muskeltonus und die fehlenden Reflexe (peripher und zentral) bestätigt zu werden scheint. Die Augen sind halb geöffnet, geschwollen und eitrig verquollen (Ophthalmia neonaturorum), eine Lichtreaktion ist noch erkennbar.

Über der Lunge höre ich massive Rasselgeräusche und Brummen und denke zuerst an eine  Mekoniumaspiration, jedoch finden sich die Geräusche überall. Ich inspiziere die Magensonde im rechten Nasenloch und sehe eitrig-seröse Flüssigkeit, also lasse ich mir den Pinguin-Sauger geben (eine geniale Erfindung aus Norwegen, denn eine Absaugmaschine gibt es nicht) und entferne zähes eitrig-schleimiges Sekret aus Mundhöhle und rechtem Nasenloch. Nach einiger Zeit bessert sich die Sauerstoffsättigung des Kindes, das Atemmuster wird etwas ruhiger.

Wenn das Team an diesem Kind dran bleibt und es weiter kontinuierlich versorgt (Wärme, Sauerstoff, Muttermilch, Flüssigkeit, Antibiotika), hat es eine Überlebenschance. Die Asphyxie bleibt natürlich, aber eine Prognose zu so einem frühen Zeitpunkt ist nicht möglich. Ich bespreche mit dem Arzt das weitere Vorgehen und biete ihm an, ihm unser digitales Material zur Neugeborenenversorgung zu schicken.

Im Anschluss treffen wir die Distrikt-Koordinatorin für Mutter/Kind-Gesundheit und besprechen mit ihr unsere Beobachtungen. Inzwischen ist es Nachmittag geworden und wir machen uns auf den Weg nach Nachingwea, um dort am nächsten Morgen das Distriktkrankenhaus zu besuchen. Vorher lasse ich mich noch beim lokalen Schneider für einen Anzug vermessen, denn sein Ruf reicht bis Lindi.

Supportive Supervision

Alle drei Monate fahre ich mit einem Kollegen des RHMT durch die Region (siehe eingerückter Bericht) und wir besuchen für jeweils einen Tag die fünf großen Distriktkrankenhäuer.

Dort erheben wir alle relevanten Daten aus Kreißsaal und Neugeborenenstation (z.B. Zahl der Entbindungen, Kaiserschnitte, Stillgeburten, Arten der Schwangeren-Komplikationen, Anzahl an Asphyxien und bei Geburt untergewichtigen Babys, neonatale Komplikationen, Todesfälle). Diese Daten dienen zum einen dazu, Verbesserungen durch vom Projekt durchgeführte Maßnahmen zu dokumentieren. Weiterhin können durch Analyse der Daten im Vergleich mit anderen Hospitälern individuelle Veränderungen im positiven („best practise“) und negativen Sinn („worst practise“) gefunden und darauf reagiert werden.

Wir prüfen, wie die empfohlenen und vom regionalen Managementteam vorgegebenen Maßnahmen umgesetztwerden. Dazu gehört z.B. die Nutzung der von meinem Vor-Vorgänger entwickelten und nun erfreulicherweise auch in der landesweiten Guideline vertretenen NTC-Card (ein Tool zur Triage von Neugeborenen, was zum einen zur Förderung der Überwachung der ersten 24 Stunden hinsichtlich Risikofaktoren, zum anderen als Entscheidungshilfe für das weitere Vorgehen dient). Dazu gehört die Durchführung von Todesfallanalysen (MPDSR), insbesondere bei Neugeborenen, was bislang eher vernachlässigt wurde. Ein möglicher Grund hierfür ist die schiere Menge an Todesfällen gegenüber dem zeitlichen und personellen Aufwand für ein Death Review. Denn hier muss der komplette Fall detailliert aufgearbeitet werden, was bei häufig unvollständiger Dokumentation sehr schwierig ist. Für das Review selbst gibt es genaue Vorgaben, wer alles dabei sein muss, und die offiziellen Vertreter haben wenig Zeit. Und dazu gehört die Durchführung von Partograph-Reviews – ein Partograph ist die analoge Variante des Wehenschreibers, ein in den 1970ern entwickeltes System, bei dem der Geburtsfortschritt in der Austreibungsphase dokumentiert wird und die visuelle Darstellung als Entscheidungshilfe für geburtsmedizinische Maßnahmen dient (z.B. Wehenmittel, Volumengabe, Vakuumextraktion, Kaiserschnitt). In den Reviews sollen die Teams gemeinsam anhand von durchgeführten Partographs Fehler erkennen und die Anwendung verbessern.

Natürlich sprechen wir auch viel mit Ärzten und Schwestern vor Ort, begleiten sie bei Geburten und Visiten, diskutieren Fälle und helfen bei schwierigen Patienten. So sehen wir, was gut läuft und wo noch Schwierigkeiten bestehen. Das gilt auch für die Verfügbarkeit von essentiellen Medikamenten (Antibiotika, Wehenmittel, Magnesium, Phenobarbital, Aminophyllin, …), Diagnostik im Labor und den Zustand der Geräte (insbesondere Pulsoxymeter, Baby-Warmer, Sauerstoff-Konzentratoren und Verbrauchsmittel).

All dies wird am selben Tag noch in einer Feedback-Sitzung an Matron/Patron und Distrikt-Mutter/Kind-Gesundheits-Koordinatoren zurückgemeldet und, wenn notwendig, auch noch in größerer Runde mit dem gesundheitlichen Leiter des Distrikts (DMO, District Medical Officer) und dem Chefarzt (MOiC, Medical Officer in Charge) besprochen.

Krankenhaus von Nachingwea

Nachingwea

Wir erreichen Nachingwea noch vor Einbruch der Dunkelheit. Die Verbindung zwischen den beiden Städten, eine alte Straße, die dem Begriff Feldweg sehr nahekommt, kostet Zeit: für die 50 Kilometer brauchen wir 90 Minuten und an den Reaktionen der vorüberziehenden Kinder merke ich, dass hier wenig Weißnasen durchkommen. Auf diesem Weg finden sich auch die Überreste einer anderen Kirche,  die mir bei der ersten Tour aufgefallen war (ich hatte mir in meine Kartenapp Maps.Me eine Erinnerung markiert.

Nachingwea ist ein kleiner Ort mit etwa fünfzehntausend Einwohnern und liegt wie Ruangwa in einer sanften und fruchtbaren Hügellandschaft. 1947 versuchte der Kolonialherrscher Großbritannien, mit dem Tanganyika Groundnut Scheme  große Erdnussplantagen zu etablieren, was aber nicht gelang. Ab 1964 gewann Nachingwea an Bedeutung mit einem Militärstützpunktzur Unterstützung der Mozambique Liberation Front (FRELIMO) im Kampf für die Unabhängigkeit von Mozambique gegenüber Portugal (bis 1974). In einem hochinteressanten Bericht des Kollegen Dr. Jäger, der 1981-1983 als Entwicklungshelfer/Gynakologe in Nachingwea gearbeitet hat (PDF, Homepage), finden sich Details zum Dorf vor 35 Jahren: damals gab es eine Weißnase (ihn), zwei Diskotheken, indische Händler (die alles aus Dar organisieren konnten) und einen funktionierenden Flughafen mit Flügen nach Dar und Mtwara zwei bis viermal pro Woche. Zu dieser Zeit waren noch viele Expats in den kleinen Orten in der ganzen Region verteilt, Dr. Jäger berichtet von einer österreichischen Familie in Mnero (ein kleines Nest 20km nördlich), Italienischen Ärzten in Masasi (45km südlich, mit Asphalt-Straße) und dem großen deutschen Missionszentrum am Benediktinerkloster von Ndanda.
Im Jahr 2019 gibt es festangestellt nur noch jeweils ein holländisches Paar in Mnero und Nyangao (ein anderes Missionshospital) und mich, plus ein deutsches Ehepaar, dasseit 30 Jahren eine Gesundheitsstation in Lindi betreibt. In die vier christlich geführten Häuser (es gibt noch das sehr kleine Hospital Kipatimu im Norden) reisen regelmäßig europäische Ärzte über das SES-Projekt („Senior Expert Service“).

Zurück in Nachingwea: die Kaserne ist geblieben, die Diskotheken sind nun eher Pubs mit Live-Musik und der Flughafen wird schon lange nicht mehr angeflogen. Das Krankenhaus hat sich jedoch stetig weiterentwickelt. Seit 2015 gibt es dort auch eine Neugeborenenstation mit ein bisschen Ausrüstung (ein Wärmebettchen, zwei Sauerstoff-Konzentratoren, Pulsoxymeter) und durch unsere Projekte ausgebildete Schwestern. Leider kommt es im Gesundheitsbereich häufig zu Personalwechseln, so dass immer das Risiko besteht, dass 9 Monate nach der Fortbildung keine der ausgebildeten Schwestern mehr auf der entsprechenden Station arbeitet. In Nachingwea haben wir Glück, unser regelmäßiges Einsetzen für eine Abschaffung der Changelist scheint scheint erste Wirkung zu zeigen und das Schwestern-Team von Kreißsaal/NICU ist seit längerem stabil. In der NICU gibt es zwei neue motivierte Ärzte, die Dokumentation ist ausführlich und insgesamt sieht alles sehr gut aus. Zufrieden packen wir unsere Sachen, ein bisschen Eile ist angesagt, da noch eine vierstündige Weiterfahrt ansteht. Zeit für ein schnelles Mittagessen bei MamaKubwa(„Große Mama“) (Reis mit Bohnen und Fisch, Wali maharage na samaki) haben wir noch, dann verlassen wir die asphaltierte Straße und machen uns auf nach Liwale.

Was war, was ist, was bleibt? Die Frage nach Nachhaltigkeit.

Nach fast zwei Jahren ist es für mich bei weitem noch nicht möglich, ein wirkliches Fazit zu ziehen. Zu unterschiedlich und von Momenten abhängig sind die Eindrücke und Gedanken, wenn ich mir die Frage stelle, was denn bleibt, wenn mein Vertrag ausläuft und wir die Region verlassen.

Dabei geht es mir hier gar nicht um die narzistische Idee, dass ohne mich oder ohne Westler hier nichts vorwärts geht. Ich schätze es sehr, dass die GIZ versucht, ihre Arbeit auf Sustainability durch Capacity Buidling auszurichten. In der Praxis sieht das oftmals möglicherweise anders aus, und dazu trägt auch bei, dass sich Projekte weiterentwickeln und verändern. Meine Stelle in Lindi wurde erstmals von meinem Vor-Vorgänger 2011 besetzt, der sehr viele Freiräume hatte und seine Arbeitsinhalt selbst erst vor Ort erarbeiten musste. So gelang ihm der Aufbau der ersten Neugeborenenstation am Regionalkrankenhaus in Lindi und er konzentrierte sich auf die Ausbildung der Schwestern und ÄrztInnen vor Ort sowie in zwei weiteren ausgesuchten Distrikthospitälern.

In der Zeit meines direkten Vorgängers konnte durch die Akquise zusätzlicher Mittel der Projektumfang deutlich vergrößert werden („upscaling“) und es wurden Neugeborenenstationen in allen sieben Distrikthäusern der Region geschaffen.

Nach der technischen Ausstattung der Häuser und einem initialen Kick-Off-Training der Ärzte/Schwestern stand in diesem „IMCH“ (Improving Mother and Child Health) genannten Projekt auch „Supportive Supervision and Mentoring“ im Mittelpunkt. Fünf weitere, extra dafür angestellte KollegInnen (3 ÄrztInnen, zwei Hebammen) besuchten mit meinem Vorgänger in Teams in jedem Quartal für fünf Tage ein Distriktkrankenhaus sowie die beteiligten Health Center und Gesundheitsstationen (siehe Bericht von Tandahimba hier). Es wurden Daten gesammelt, die alltägliche Arbeit begleitet und praktische Übungen (MopUp, Scenarios) durchgeführt. Zur Unterstützung wurden ausgesuchte MitarbeiterInnen aus den Teams vor Ort als Mentoren ausgebildet und beteiligten sich an den Besuchen.

Mit dem Ende des Projektes 2017 sollte ich die erreichten Verbesserungen in Stand halten und mit kurzen Quartalsbesuchen pflegen. Die eigentliche Supervision sollte vom regionalen Management-Team weitergeführt werden, was bislang leider aus Budget-Gründen nicht gelang. So blieben meine dreimonatlichen Besuche, die ich nun dazu nutze, den Bezug zu den Teams der Häuser zu vertiefen und Verbesserungsideen und Anstöße zu geben. Und natürlich Daten zu sammeln und Neugeborene zu untersuchen.

Sicherlich bleibt nach mir das ein oder andere Tool, das weiter auf den Stationen genutzt wird. Auch die Nationale Behandlungsrichtlinie wird hoffentlich ihren Weg in alle Krankenhäuser finden.

Am eindrücklichsten bleibt aber für mich neben all dem funktionell-planerischen, den Prozessen und Strukturideen doch der persönliche Kontakt zu den KollegInnen, die hier vor Ort arbeiten, und die Interaktion beim gemeinsamen Arbeiten. Hier werden immer wieder die verschiedenen Herangehensweisen klar, die unterschiedliche Ausbildung und auch der unterschiedliche kulturelle Hintergrund, und das bietet so viele Möglichkeiten, voneinander zu lernen.

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass doch vielleicht sowohl bei mir als auch bei meinen KollegInnen in Lindi und der Region ein paar Sachen hängen bleiben werden, wenn wir hier schweren Herzens nach 2 Jahren wieder unsere Sachen packen und uns aufmachen in die Welt, die wir bislang „Heimat“ genannt haben.

Krankenhaus von Liwale

Liwale

Liwale liegt von allen Städten auf der Tour am Weitesten abseits, via Luftlinie sind es etwa 200km zur Küste, die asphaltierte Hauptstraße ist 175km oder etwa 5-6 Stunden Fahrzeit entfernt. Das Örtchen grenzt an die südlichen Ausläufer des Selous Nationalparks, das mit 52.000 kmgrößte Wildschutzgebiet Afrikas, und steht wirtschaftlich durch die umliegenden endlosen Cashewnuss-Baum-Felder sehr gut da. In den späten 1980er Jahren gab es hier eine aktive deutsche Expat-Gemeinde um einige Ärzte-Familien – eine davon ist in der Region geblieben und betreibt bis heute die weitüber die Region hinaus bekannte Brigitta Dispensary in Lindi.

Der Besuch in Liwale ist für mich immer etwas Besonderes, denn es ist immer etwas kühler als an der Küste, es gibt zum Frühstück wahnsinnig leckere Rindfleisch-Suppe mit den besten Chapati der ganzen Region und im Kreißsaal des Distrikthospitals arbeitet ein Kollege, der inzwischen zu einem guten Freund geworden ist.  Er hat uns im März 2018 bei zwei Fortbildungsworkshops unterstützt und gibt ehrliche Rückmeldungen in der Anwendung der von uns entworfenen Tools und Dokumentationshilfen. Leider ist auch das Krankenhaus in Liwale trotz eines sehr charismatischen Leiters nicht vor den system-immanenten Probleme geschützt, es fehlt an Personal und die Neugeborenenstation hat immer noch keine eigene Krankenschwestern, sondern läuft neben Kreißsaal und Wochenbettstation nebenher mit. So kommt es auch, dass ich bei der gemeinsamen Visite ein zwei Tage altes Frühchen in desolatem Zustand vorfinde. Es liegt in Tücher eingewickelt neben der Mutter auf dem Bett, also weder mit KMC (Kangoroo Mother Care) an deren Brust gebunden, noch in einem Wärmebettchen. Das Geburtsgewicht lag bei 1.100 Gramm, ich schätze das Reifealter basierend auf dem Gewicht auf 28 – 30.  Schwangerschaftswochen, korrigiere es aber beim genauen Untersuchen auf Grund der Unreifezeichen auf 26-28. Wochen. So ein kleiner, viel zu früh geborener Körper braucht vor allem Wärme, weswegen in den sog. „Entwicklungsländern“ bei Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 2.000g die KMC-Methode empfohlen wird, wenn Inkubatoren und BabyWarmer nicht oder nicht zuverlässig zur Verfügung stehen (Who hier). Diese Technik wird auf Grund der vielen positiven Effekte auf die Entwicklung der Frühgeborenen durch den direkten Hautkontakt (Ski-to-Skin) auch in westlichen Neugeborenen-Intensivstationen angewendet und ist füralle Beteiligten immer sehr aufregend, da der „Ausbau“ des Frühchens aus dem Inkubator mit all den Schläuchen und Kabeln immer mit einem gewissen Aufwand verbunden ist.

In der Praxis in Tansania fehlt häufig das Personal, um die Mütter über diese Technik aufzuklären und auch die Anwendung regelmäßig zu überprüfen. Im Falle unseres Frühgeborenen war es jedenfalls nicht durchgeführt worden, und so finde ich bei der Untersuchung eine Körpertemperatur von 30,5°C mit beginnender Zentralisierung, die Beine erscheinen bereits zyanotisch. Wir legen das Baby auf das Wärmebett und versuchen ein stufenweises Erwärmen, während wir gleichzeitig per Magensonde Flüssigkeit geben. Ein i.v.-venöser Zugang ist nicht vorhanden und auch nicht möglich, da die zur Verfügung stehenden Kanülen nicht klein genug sind (intraossär gibt es auch nicht). Leicht frustriert setze ich meinen Besuch fort und sehe mir die Fälle der letzten vier Monate durch.
Bei der Nachbesprechung mit der für Mutter-Kind-Gesundheit verantwortlichen Matron (Oberschwester) führt unsere Darstellung der Situation dazu, dass das Leitungsteam einberufen wird. Wir haben Glück, denn sowohl der Klinikleiter als auch der ärztliche Leiter des Distrikts (DMO, District Medical Officer) sind verfügbar. Alle beteiligten Personen zeigen Verständnis und kündigen an, sich um eine neue Schwester zu kümmern.

Wir werden in den nächsten Wochen nachverfolgen, ob es zu einer Neubesetzung kommen wird. Schon wieder auf dem Heimweg erhalte ich gegen 17 Uhr die Nachricht von meinem Kollegen, dass das Frühchen gestorben sei.

(P)

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Kinder sollten mehr spielen - das Projekt PoaTenge

Kinder sollten mehr spielen, als viele es heutzutage tun. Denn wenn man genügend spielt, solange man klein ist – dann trägt man Schätze mit sich herum, aus denen man später ein Leben lang schöpfen kann. Dann weiß man, was es heißt, in sich eine warme Welt zu haben, die einem Kraft gibt, wenn das Leben schwer wird.

Astrid Lindgren (2000): Steine auf dem Küchenbord: Gedanken, Erinnerungen, Einfälle.

 

Ist es absurd, einen Blogbeitrag aus Tansania mit einem Zitat von Astrid Lindgren zu beginnen? Einen Beitrag, bei dem es um Kinder geht, die aller Wahrscheinlichkeit nach kein einziges Buch besitzen und in ihrem weiteren Leben vermutlich nicht mit Büchern Astrid Lindgrens in Kontakt kommen werden? Ich finde: nein! Denn es geht heute um genau das, was Lindgren ein so großes Anliegen war: spielende Kinder. Genauer gesagt, die Kinder von Mchinga Mbili.

Mchinga Mbili ist ein Nachbardorf von Lindi (23 km nördlich), mit ca. 6.000 EinwohnerInnen und liegt wie auch Lindi an der B2, der Straße die von Dar es Salaam bis nach Mtwara an die Grenze zu Mosambik führt. Bedenkt man, dass 43,4% der Gesamtbevölkerung Tansanias unter 14 Jahre alt ist so leben in Mchinga zurzeit schätzungsweise 2630 Kinder unter 14. Die Menschen in Mchinga Mbili leben als Selbstversorger von der Subsistenzwirtschaft. Zurzeit befindet sich ein Unternehmen zur Herstellung von Sonnenblumenöl sowie Hühneraufzucht im Aufbau, das es sich außerdem zum Ziel gemacht hat, Weiterbildung zu nachhaltiger Landwirtschaft zu betreiben (KT Homepage).

Zurück zu den Kindern! In Tansania ist der Schulbesuch für alle Kinder ab Grundschulalter (sechs Jahre) verpflichtend und abgesehen von Kosten für Schuluniformen sowie Schreibutensilien an den staatlichen Schulen kostenlos. Unter anderem durch sehr große Klassen (bis zu 100 SchülerInnen pro LehrerIn), vielfach miserablen Zustand der Schulgebäude, das Fehlen von Unterrichtsmaterial und die sehr kurze und eingeschränkte zweijährige LehrerInnenausbildung kann das Unterrichtsniveau an staatlichen Schulen in Tansania als mindestens problematisch beschrieben werden.

Schwierig ist weiterhin die geringe Bezahlung sowie das schlechte Ansehen der Lehrkräfte in der Gesellschaft, was sich in der weit verbreitete Meinung zeigt, ein Leben als LehrerIn sei die Konsequenz aus einem sehr schlechten Abschneiden in der eigenen Schullaufbahn (Informationen zur Lehrerausbildung in Tansania finden sich bei der kenianischen NGO FAHAMU hier, Stand: 04.12.2018).

Lediglich 10 % aller GrundschulabsolventInnen besucht im Anschluss an die siebenjährige Grundschule eine weiterführende Schule.

Die Grundschule in Mchinga Mbili hat knapp 800 Schülerinnen und Schüler zwischen sechs und dreizehn Jahren die von zehn LehrerInnen unterrichtet werden. Nachdem die meisten Kinder die Schule bereits (regelwidrig) nach der vierten oder fünften Klasse verlassen kann davon ausgegangen werden, dass die eigentliche Anzahl schulpflichtiger Kinder noch deutlich höher liegt. Bauliche Mängel (z.B. schadhafte Dächer) gibt es auch an der Grundschule in Mchinga zahlreiche – daran kann die aus unserer Sicht maximal idyllische Lage unter Kokospalmen an einem kilometerlangen, weißen Sandstrand am indischen Ozean nichts ändern. Immerhin wurde kürzlich ein neues Schulgebäude mit zwei Klassenräumen fertig gestellt – nun gibt es sieben Räume für sieben Klassen. Dies verbessert die Situation vor allem mit Blick auf die kommende Regenzeit (das neue Gebäude ist gut zu erkennen auf dem Luftbilder).

Die Grundschule von Mchinga Mbili

Gestern ging es nun um die Außenanlage der Schule:

Unser vor gut einem Jahr ins Leben gerufene Projekt Poatenge (ganz grob: Nähprojekt mit deutsch-tansanischen ProjektpartnerInnen, die durch lokale Herstellung und globalen Verkauf von genähten Produkten einen Gewinn erzielen, der in Tansania zur Beschaffung von Spielgeräten an Grund- und Vorschulen eingesetzt wird) hatte Dank sehr gut laufendem Verkauf der Produkte in Deutschland genügend Gewinn erwirtschaftet, um die mittlerweile vierte Schule mit Spielgeräten auszustatten.

Das Schlosser-Team in Lindi
Unsere Schneiderin Mwajuma
Chefin bei der Stoffauswahl.

So installierte Schlosser John Hamisi mit seinem Team nach dreiwöchiger Bauphase (im workshop in Lindi) die Geräte unter einem eindrucksvollen Mangobaum vor der Grundschule Mchinga. Das Interesse und die Freude der Kinder hätten nicht größer sein können! Wir sind stolz und dankbar, den Kindern von Mchinga Mbili mit diesen Spielgeräten einen Raum zum Spielen bieten zu können! Die Geräte sind so platziert, dass sie die meiste Zeit des Tages im Schatten liegen und werden sicherlich nicht nur von den Schulkindern, sondern von allen Kindern des Dorfes genutzt werden. Um das Verletzungsrisiko gering zu halten, und da die Kinder in den Pausen und in ihrer Freizeit in der Regel ohne Aufsicht sind, sind alle Poatenge Spielgeräte ohne bewegliche Teile gehalten (daher keine Schaukeln, Wippen etc.). Um die Haltbarkeit zu maximieren und aufgrund von Termiten und Klima (Regenzeit, extreme Sonneneinstrahlung) verzichten wir auf die Verwendung von Holz. Die Errichtung von Spielgeräten an Vor- und Grundschulen in Lindi und Umgebung ist eines der Ziele von Poatenge – neben wirtschaftlichen Aspekten wie der Förderung von Kleinstunternehmen, in unserem Falle in Form unserer Schneiderinnen sowie den Schlossern.

Wer Lust hat, mehr über Poatenge (z.B. Entstehung, Team, Produkte) zu lesen klickt gerne hier:

PoaTenge

Über Digitalisierung in der Medizin

Arthur C. Clarke:
If we wanted to wait till the year 2001 we will have in our own house not a computer as big as tour, but at least a console through which we can talk to our friendly local computer and get all the information we need for our everyday life, like our bank statements, our theater reservations, all the information you need in the course of living in a complex modern society.
This will be in a compact form in our own house. We’ll have a television screen, like these here, and a keyboard. And we’ll talk to the computer and get information from it. And we’ll take it as much for granted as we take the telephone.
Interviewer:
I wonder, though, what sort of a life would it be like in social terms? I mean, if our whole life is built around the computer, do we become a computer-dependent society?
Arthur C. Clarke:
In some ways, but they will also enrich our society, because it will make it possible for us to live, really, anywhere we like.
Any businessman and executive could live almost anywhere on Earth and still do our business through a device like this. And this is a wonderful thing. It means we won’t have to be stuck in cities. We’ll be able to live out in the country or wherever we please.
(Interview with ABC TV Australia, 1974)

— English version after the click

 

Digitale Gefahren

Während in der ersten Welt eine immer größer werdende Bewegung sich bewusst gegen digitale Dinge entscheidet und knisternde Schallplatten hört (auch ich), mit dem Füller Briefe schreibt und digitalen Fotos mit Hilfe von Filtern eine „analoge Ästhetik“ zurück gibt (auch ich), erschafft die zunehmende Digitalisierung  in den sogenannten Entwicklungsländern ganz neue Möglichkeiten.
Ich meine damit nicht die mit dem Ideal von Aufklärung und arabischem Frühling verbundenen Errungenschaften von freier Kommunikation und ungehindertem Zugang zu freiem Wissen, die sich ja nicht erst seit dem Facebook-Skandal mit Cambridge Analytica, sondern auch weiterhin in vielen politischen Variationen von Russland bis zur Türkei und wahrscheinlich auch in den USA mit all ihren digitalen Manipulationen und gezielten Fehlinformationen als Utopie erwiesen zu haben scheinen.

Ich spreche von tatsächlichen Alltagserleichterungen.

Wakala-Service in fast jedem Laden (Tandahimba)

Mobile Life in Africa

Die Alltagserleichterungen gehen los bei den viel beschriebenen allgegenwärtigen massiv ausgebauten Mobilfunknetzen, die zu enormer Erreichbarkeit und Mobilität geführt haben. Aber es geht noch weiter: mit mobiler Währung (MPesa, Halopesa, ..) werden problemlos bargeldlos Kleinstbeträge bezahlt oder Geld gegenseitig hin und her geschickt. Mit Unterstützung der Banken (mobile banking, hier: SIM Banking) ersetzt das System sogar das Online Banking. Etwa ähnliches wird gerade mühevoll mit hohem Werbeaufwand beispielsweise in Deutschland von der Sparkasse eingeführt (Kwikk). 

Der Unterschied zu den in Deutschland verbreiteten Online-Banking-Apps ist, dass man a.) kein Smartphone braucht, sondern die Datenübertragung über USSD („quick codes“) innerhalb des GSM-Standards nutzt b.) somit auch kein mobiles Internet notwendig ist c.) der Schwerpunkt auf Senden von Geld von Handy zu Handy gesetzt wurde d.) eine Auszahlung von Handy zu Bargeld durch „Agenten“ in kleinen Straßengeschäften (Wakala = Agentur) flächendeckend möglich ist. Man kann es eher mit der bei uns so erfolglosen Geldkarte vergleichen. 

Auch die Erreichbarkeit der Bevölkerung für Werbung ist ganz anders, da der Zugang zu traditionellen Medien (Zeitung, Wochenmagazine, Internet-Nachrichtenportale) bis auf Radio in den meisten Regionen kaum möglich ist. Hier kommen dann wieder mobile Kommunikation und soziale Netzwerke ins Spiel, insbesondere Instagram: ganze Wirtschaftszweige preisen ihre Waren auf Instagram an und verkaufen dann ungefiltert über Telefon: selbstgenähte Kleidung, Kangas, Rucksäcke, Mode, Essen, … .

Digital Health und Entwicklungszusammenarbeit

Digitalisierung in der Medizin ist bei uns Westlern ein heikles Thema. PatientInnen denken an den gläsernen Patient/die gläserne Patientin und allwissende Versicherungen, Ärztliches Personal an stundenlanges Tippen und klicken zum Dokumentieren. Ich persönlich habe in der alltäglichen Handhabe auch noch keinen Zugang zur digitalen „Patientenkurve“ VMobile gefunden, die in meiner alten Klinik schrittweise eingeführt wurde. Unendliche Klick-Wege und eine umständliche Oberfläche standen mir immer im Weg. Und nach wie vor finde ich es trotz der vielen Vorteile hemmend, wenn tägliche Verlaufsnotizen irgendwo eingetippt werden müssen – die Standard-Tastatur ist für mich einfach eine uninspirierende Eingabemethode (mein Traum, eine ästhetische, einfache und funktionelle Software für Tablets zu entwickelt, scheiterte bisher an Zeit, Geld, Nerven und Durchhaltevermögen).

In der Entwicklungszusammenarbeit ist Digitalisierung DAS Schlagwort von 2018 (es ersetzt zumindest in unserem Projekt das bisherigen Schlagwort „Mutter-Kind-Gesundheit“) und das vorherrschende Thema der nächsten geplanten Phase der Deutsch-Tansanischen Kooperation (TGPSH, Tanzanian German Program to Support Health) zwischen dem Tansanischen Gesundheitsministerium (MOH) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), ausführt durch die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Es ist Unterstützung geplant für die Ausstattung mit Hardware, die Verbesserung der Stromversorgung und vor allem für Training und Capacity Building des Personals. 

Vergleichbare Projekte in anderen Ländern haben sehr positive Ergebnisse gezeigt, zum Beispiel in Nepal (großer Report hier) und Bangladesh.

Im tansanischen Gesundheitswesen kann Digitalisierung einen enormen Gewinn auf mehreren Ebenen ermöglichen:

  • digitale Patientenregistrierung: ermöglicht eine zuverlässige Kontrolle der Patientenströme: wer kommt wann wie oft zu welcher Zeit? Bislang gab es dafür lange Listenbücher, Ablagen und Zettelwirtschaft – eine einfache Analyse (wie viele kommen? Wohin kommen sie?) war aus diesem Grund nur sehr aufwändig möglich.
  • digitale Abrechnung: kann schneller und direkter erfolgen. Überhaupt kann nun alles Abrechnungstelevante direkt dokumentiert werden (Labor, Bildgebung, Medikamente,…). Das vereinfacht auch die Zahlungsströme, da nicht für jeden Zwischenschritt extra gezahlt werden muss. Und es geht noch weiter: irgendwann kann man die Zahlungen auch direkt über eine Bank-Karte bargeldlos durchführen. So etwas wird schon im Missionskrankenhaus Mbesa und im großen Orthopädie-Zentrum CCBRT in Daressalam mit der CRDB-Bank umgesetzt, wenn auch in Kombination mit analoger Dokumentation.
  • Epidemiologie: Public Health Daten und ICD-10 müssen nicht mehr manuell und potentiell unzuverlässig aus den Büchern extrahiert werden. Man wird nun erstmals gut analysieren können, mit welchen Diagnosen überhaupt welche Leute wann und wo die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, später auch mal halb-automatisch regionale Schwerpunktanalysen durchführen können usw.
  • Kontinuität in der Dokumentation medizinischer Patientendaten von Patienten: ein heimlicher Traum vieler deutscher Ärzte: die digitale Patientenakte. Man sieht auf einen Blick, welche Medikamenten eingenommen werden (sollten), was schon an Diagnostik und Anamnese gemacht wurde, Vorgeschichte, usw. Am Besten noch zentral ablegt, so dass man von jedem zertifizierten Zentrum darauf zugreifen kann. Das wäre in meinen Augen hier ein unglaublicher Fortschritt, da Bildungsniveau und Alltagsleben vieler Menschen hier die Anamnese-Erhebung deutlich erschweren und so etwas wie „Entlassbriefe“ nicht existieren. Selbst wenn ich hier Kinder untersuche, die von der Uni-Kinderklinik in Daressalam kommen, habe ich oft nicht mehr als einen handgeschriebenen Zettel mit Stichpunkten.

Patientenregistrierung in Ruangwa
Neuer Stützpunkt für Visite im Regionalkrankenhaus Lindi

Zwei Welten I

Bereits 2012 verabschiedete die Tansanische Regierung ihre „eHealth Strategy 2013 – 2018“ (PDF hier), in der ganz deutlich die oben beschriebenen Vorteile dargestellt und Schwerpunkte für die weitere Entwicklung gesetzt wurden. Natürlich ist im ersten Moment der technische Entwicklungsstand der über 5.300 (!) staatlichen und privaten Gesundheitseinrichtungen der entscheidende limitierende Faktor für jegliche Digitalisierung, aber in diesem Fall zeigt sich gegenüber Deutschland ein Vorteil, wenn das Gesundheitssystem nahezu ausschließlich in staatlicher Hand ist und so landesweite Standards geschaffen werden können. 

Bislang gab es in Tanzania trotz staatlicher Kontrolle des Gesundheitssystems viele verschiedene individuelle Einzellösungen, oftmals von unterschiedlichen Stakeholdern und NGOs unterstützt und entwickelt. So hatte auch die GIZ ein digitales System zur Patientenregistrierung und Abrechnung entwickelt (Afya Pro), dass z.B. im Sokoine-Regionalkrankenhaus seit 2 Jahren verwendet wurde. Hier spielt auch die komplexe politische Struktur des tansanischen Gesundheitssystems eine Rolle, denn zusätzlich zu den individuellen Lösungen gab es auf staatlicher Ebene zwei Systeme, die parallel verwendet wurden, aber nicht untereinander kompatibel waren oder über gemeinsame Schnittstellen verfügten. 

Dazu muss man wissen, dass es im Land zwei große Regierungs-Organe gibt: Die Ministerien mit ihren politisch gewählten Vertretern, fachlichen Staatssekretären und regionalen/lokalen Vertretungen auf der einen Seite und das PoRALG auf der anderen Seite, das „Presidents-Office Regional Authority Local Government“, eine Art Bundesrat aus politisch eher unabhängigen Fachleuten, die bis in die Distrikt-Ebene mit Fachleuten besetzte Gremien bilden und sich um die praktische Umsetzung politischer Vorgaben kümmern. 

Das Gesundheitsministerium (MoHCDGEC, Ministry of Health, Community Development, Gender, Elderly and Children) arbeitete seit Jahren am System „GoT-HoMIS“ (Government of Tanzania Hospital Management Information System) mit Schwerpunkt Patientenregistrierung und Abrechnung. PoRALG konzentrierte sich auf ein EMR-System, einen Electronic Medical Record, der den Fokus auf Dokumentation medizinischer Daten legte.

Die Entwicklung einer einheitlichen allumfassenden eHealth-Strategie war ein wichtiger Schritt und darauf basierend wurde in den letzten Monaten eine gemeinsame Lösung aus beiden Systemen entwickelt: die „unified solution eFMS – Electronic Facility Management System“ ist ein umfassendes Computersystem, das von Patientendatenverwaltung über Anforderungen (von Untersuchungen usw.), Abrechnung, Digitale Patientenakte und sogar Patientenkurven-Dokumentation alles abdecken soll (siehe auch hierzu Tanzania Digital Health Investment Road Map 2017 – 2023″ PDF).

Digitale Visite in der NCU
Digitale Visite in der Kinderstation

Zwei Welten II

Wenn am Ende die Software entwickelt ist und das eHealth-Konzept kurz vor der Umsetzung steht, ist klar: es genügt nicht, vor Ort einfach nur Computer aufzustellen. Tanzania teilt sich in 25 Regionen (Stand 2012) mit insgesamt 113 Distrikten. Die erwähnten 5.300 Gesundheitseinrichtungen setzen sich aus etwa 37 Regionalkrankenhäusern, 92 Distrikt-Krankenhäusern (35 davon gehören religiösen Trägern), 481 Health Centern und etwa 4.700 Gesundheitsstützpunkten (dispensaries) zusammen, wobei die Gesundheitsstützpunkte an den wirklich entlegensten Orten die minimale Grundversorgung anbieten und oftmals nur mit einer Krankenschwester besetzt sind (trotz >50 Patienten pro Tag). Hinzu kommen 9 hochspezialisierte Häuser und 94 private Kliniken.

Selbst wenn man nur die 237 (privaten und öffentlichen) Krankenhäuser betrachtet, fehlt es auf dieser Ebene an vielen Orten an grundlegender Stromversorgung für ein derartiges Computernetzwerk. An dieser Stelle sei noch einmal angemerkt, dass die Verwendung von Computern generell weitaus weniger verbreitet ist als in der ersten Welt, weil es bislang kaum Notwendigkeit dafür gab. Inzwischen arbeiten viele Menschen beruflich mit Laptops und in den Firmen stehen viele Desktop-PCs, aber eine private Computernutzung existiert nicht. Diese Lücke wird seit etwa 8 Jahren von Smartphones und neuerdings Tablets gefüllt. 

Im medizinischen Sektor gab es bis zur Einführung der ersten Patienten-Management-Systeme neben der Radiologie und dem Labor gar keine Computer. Entsprechend fehlten auch Impulse für das Wachstum einer entsprechenden Infrastruktur. Es gibt häufig keine ausreichend stabile Stromversorgung, keine BackUp-Systeme, keine Aufstellorte, keine internen Netzwerke. Vor allem existieren keine Konzepte (und kein ausgebildetes Personal) für Wartung und Service. Viele MitarbeiterInnen haben noch nie an einem Computer gearbeitet – haben aber durch die rasant wachsende Verbreitung von Smartphones Erfahrung mit digitalen Geräten (QWERTY-Tastatur usw.). 

Ausblick

Es ist viel zu tun und es wird viel zu tun sein. Ich werde innerlich immer zwiegespalten bleiben, wenn ich auf der einen Seite sehe, dass bei einem akut krampfenden Neugeborenen kein Antiepileptikum als Notfallmedikament zur Verfügung steht (und die Angehörigen erst mit einem Rezept zur Krankenhaus-Apotheke geschickt werden müssen) und auf der anderen Seite so viel Geld für Hardware ausgegeben wird.
Dagegen ist es manchmal eine Herausforderung, aus den Notizen des Kollegen im A5-Schulheft, das hier als Krankenakte verwendet wird (das Heft wird den Familien mitgegeben und hat deswegen oftmals sehr gelitten) und den unvollständigen Angaben der Mutter eine klare Vorgeschichte / Medikamentengeschichte zu erheben, was durch digitalisierte Krankenakten längerfristig nicht mehr nötig sein kann. 

Es ist ein wichtiger und notwendiger Weg, der vieler Anstrengungen und Investitionen bedarf, aber dem Ziel einer allgemeinen Gesundheitsversorgung (universal health coverage) einen Schritt näher kommt. 

 

Zum Weiterlesen:

Cambridge Analytica

Großartiges Interview mit dem Psychologen Michal Kosinski „Ich habe nur gezeigt dass es die Bombe gibt“)
Zusammenfassung des Skandals von VOX

mobile life:

Infos zu USSD (en) (de)
Mobile Banking (en) (de)
History of M-Pesa (en)(de)
Werbung von NMB Bank für Wakala Agenten: https://www.nmbbank.co.tz/business-banking/ways-to-bank/nmb-wakala

Digital Health in der Entwicklungszusammenarbeit: 

Toolkit Digitalisation in Development Cooperation:  https://www.giz.de/expertise/html/22564.html
M-Health-Arbeitsgruppe: https://www.mhealthworkinggroup.org
PATH Beratungsfirma: https://www.path.org/digital-health/  Artikel über Änderungen in Tansanias Krankenhäusern (en)

The Medical Futurist:

hochinteressanter Blog über neueste technische Entwicklungen in der Medizin (für Science-Fiction-Freunde): https://medicalfuturist.com

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Infos zu den Liedtexten finden sich hier.


Mbesa - zu Gast bei Freunden

Auf die schöne kurze Zeit,
zu nehmen und zu geben,
den Augenblick der Ewigkeit,
den wir auf Erden leben.

R. May

 

— English version here —

 

Fühlt man sich in Lindi bisweilen relativ weit ab von Informations- und Warenfluss, Weltgeschehen, Milchprodukten, Kneipenkultur etc. so kann man ca. sieben Stunden über Masasi nach Mbesa fahren und bei der Rückkehr dann Lindi in einem völlig neuen Licht sehen. Mbesa liegt ca. 30 km nördlich der mosambikanischen Grenze, ist in der Trockenzeit von Tunduru aus nach anderthalbstündiger Fahrt über ungemütliche Sandpiste zu erreichen und hat schätzungsweise 19.000 Einwohner.

Hier wurde Ende der 50er Jahre auf Anfrage der damaligen britischen Kolonialmacht Tansanias eine deutsche Missionsstation eingerichtet, die in den Hochzeiten (80er Jahre) bis zu 60 deutsche MissionarInnen (inkl. Kinder) beherbergte. Bei unserem Kurztrip Mitte September (da gibt es zwei Wochen Schulferien in Tansania) bestaunten wir das in den 50ern erbaute Schulgebäude, in dem zeitweise sogar deutsche LehrerInnen die Kinder der Missionarsfamilien unterrichteten, die alte deutsche Telefonanlage inkl. Telefon mit Wählscheibe in jedem Gebäude, Brezeln, die ein einheimischer Bäcker dort bis heute backen kann, deutsche Straßenbeleuchtung, eine gigantische Solarstromanlage, den alten Pool der Missionsstation (immerhin zur Hälfte noch dicht und benutzbar), eine eindrucksvolle Landebahn des heute nur noch in Notfällen angeflogenen Flughafens uvm.

Philipp war zwei Vormittage auch im Mbesa Mission Hospital bei der Visite dabei. Das Krankenhaus wurde 1959 gegründet und hat mit seinen 100 Betten ein Einzugsgebiet von etwa 350.000 Personen in einem der ländlichsten und ärmsten Gebiete Tansanias. Lange Zeit unterstützten deutsche ÄrztInnen das Team der behandelnden tansanischen ÄrztInnen, jedoch verließen alle deutschen KollegInnen bis Ende 2017 aus unterschiedlichsten Gründen die Klinik. Aktuell gibt es vereinzelte Kurzeinsätze. Finanzielle Unterstützung besteht weiterhin, auch wenn das Hospital durch eine „public private partnership“ als „designated district hospital“ auch von der Regierung mit finanziert wird.

Ronja ging drei Tage lang überaus glücklich mit den drei Kindern unserer Freunde in Mbesa zur Schule. Der Unterricht findet im Schulgebäude der Mission statt, wo es neben einem Kunstraum sogar eine kleine Turnhalle und Bibliothek gibt sowie drei deutsche Freiwillige, die für jeweils ein Jahr den Unterricht mit Material der Deutschen Fernschule übernehmen. Nachdem wir Ronjas lokalen Schulbesuch in Lindi seit Juli ebenfalls mit Material der Fernschule ergänzen, passte dies perfekt und Ronja war selig, mit anderen deutschsprachigen Kindern lernen und spielen zu können. Auch für uns waren es wunderbare Tage mit spannenden Gesprächen, viel Erfahrungsaustausch und leckerem Essen (neben Brezen gab es auch Käsespätzle, Pizza und zu Mats drittem Geburtstag natürlich einen Schokokuchen)!

Auf dem Rückweg legten wir einen kleinen Stopp nahe einem der Inselberge um Masasi ein und erklommen zusammen mit schätzungsweise 30 Kindern aus der Umgebung inkl. spontan ernanntem Bergführer ein besonders rundes Exemplar (detaillierter Fachtext hier).

 

Zum Weiterlesen:

Homepage des Missionskrankenhauses Mbesa: http://www.mbesahospital.com/

Informationen zum Krankenhaus und Mbesa von Forum Wiedenest e.V.: https://www.wiedenest.de/weltweite-mission/mission-unterstuetzen/missionsprojekte/mbesa-mission-hospital.html

Primary Surgery: Trauma (Maurice King, Peter Brews): https://www.amazon.de/Primary-Surgery-Trauma-Medical-Publications/dp/019261598X

„Medizin an der Grenze“ (April 2013), ein Artikel in Thieme Via Medici zur Tätigkeit einer deutschen Ärztefamilie in Mbesahttps://seckelmann.files.wordpress.com/2015/08/viamedici-artikel.pdf

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Serving in Mission

Above all powers, above all kings
Above all nature and all created things
Above all wisdom and all the ways of man
You are here before the world begann

Lenny Leblanc*

 

— scroll down for English version —

Vor unserem Umzug nach Lindi machten wir uns über unzählige Dinge Gedanken und versuchten, uns unser neues Leben vorzustellen. Wie würde unser Haus und seine Umgebung aussehen? Was sollten wir einpacken? Gibt es in Lindi eine gute Schule für unsere Kinder? Wie ist das Wetter während der Regenzeit? Womit wir niemals gerechnet hatten war die große Zahl christlicher Missionare und der schöne und wertvolle Kontakt zu ihnen, der sich entwickelte. „Missionare“ meint nun nicht – plakativ gesagt – alte weiße Männer, die möglichst viele Menschen taufen. Stattdessen trafen wir auf eine japanische Familie mit drei Kindern, die seit 15 Jahren in Lindi lebt sowie eine amerikanische Familie aus Texas mit zwei Kindern, die seit drei Jahren in Lindi wohnt. Im nächsten Dorf, 25 km nördlich, leben zwei amerikanische Familien mit zwei und vier Kindern zwischen vier und 14 Jahren. Von Anfang an hießen diese Familien uns sehr herzlichen willkommen, luden uns zu gemeinsamen Treffen ein und waren und sind für uns und unsere Kinder zu wirklich wertvollen Kontakten geworden. Wir möchten heute einen kleinen Einblick in diese für uns völlig neue Lebensrealität und die Motivation sowie den Alltag dieser Familien bieten und tun dies in Form eines Interviews mit Lauren Pierce, der Mutter der texanischen Familie in Lindi. Lauren und ihr Mann Jason sowie ihre zwei Jungs Silas und Noah kamen 2015 nach Lindi und arbeiten für „Serving in Mission“ (SIM). SIM ist eine internationale und interkonfessionelle christliche Missions Organisation, die 1893 gegründet wurde. Die SIM Missionare leben jeweils für zwei Jahre im Ausland, sind dann für ein halbes Jahr im Heimatland und kehren für weitere zwei Jahre zurück ins Ausland.

— English version —

Before coming to Lindi we thought about countless things – e.g. which stuff to take with us or how to learn the language as soon as possible. Also, we tried to imagine many aspects of our future life – what will the place look like where we are going to live? Is there a good school for our children? What is the weather like during rainy season? What we never expected to find in Lindi were christian missioners! Talking about missioners – we don´t mean old white men, baptizing as many people as possible! Instead we met one Japanese family (three children) who has been living in Lindi for about 15 years and one American family from Texas (two children) who has been living here for three years now. In the next village 25 km north of Lindi there are two American missionary families (two and four children). From the very beginning on these families gave us a warm welcome and invited and included us in their joint activities. We and our kids are very thankful for their friendship and with this blog entry we want to provide an insight in their motivation, their challenges and their everyday life in this region. As we do not feel ready to give this insight by ourselves I conducted an interview with Lauren Pierce, the mother of the American family in Lindi. The Piercens first came to Lindi in 2015 and belong to “Serving in Mission” (SIM). SIM is an international and inter confessional Christian mission organization, founded in 1893. The SIM missionaries stay abroad for two years and go on home assignment for six months before their return for another two years and so on.

After church everybody is invited to come to Pastor Johanna´s house.

The Interview:

Wiebke: Originally you and your husband come from Texas. What were you both working back home? Why/how did you decide to change your life radically and move to Tanzania?

Lauren: Before coming to Tanzania, I was a second-grade teacher and Jason worked as a logistics manager at a freight forwarding company. We both felt called or lead by God to quit our day jobs and move to Tanzania in obedience to the conviction that we both felt to share our faith with others.

Wiebke: When did you come to Lindi for the first time? Had you ever been to Tanzania or another foreign country before? How did you choose especially Lindi?

Lauren: Neither Jason or I had ever been in Tanzania before committing to live here long term. We both had been to Kenya and I worked as an English teacher for a short time in Hong Kong as a part of my studies at University.

After going to Kenya together we were hoping to have some sort of clarity as to what to do as missionaries. One of the things we noticed while we were there is that there were A LOT of missionaries and expat workers. We wanted to go to a place where the need was great but the ‘goers” were few. At the time we were working with our sending organization SIM to find a location. They sent us the job descriptions they had for all of East Africa. Jason and I looked through them separately (about 15 positions) and we both picked the same one. We took that as clear direction from the Lord that he wanted us in Lindi, Tanzania. Jason would be working as a Bible teacher and disciple maker and I would also be involved with church development through children’s and women’s ministry.

Wiebke: What about your preparation – which kind of preparation did you go through (e.g. language course)?

Lauren: Jason went back to school to earn his masters degree a year before leaving and I took several online courses on Bible and cross-cultural sensitivity. We also attended a 4 week training in America for language acquisition and cross cultural acclimatization. Once we arrived in Tanzania we studied Swahili for four months in Iringa.

Wiebke: What was your start like in Lindi? Which support did you get from other fellow expats/missioners?

Lauren: Start up in Lindi was very difficult. We had to get used to many things such as the extreme heat and humidity, power outages, limited water and sometimes no running water. I (Lauren) had to re-learn how to cook and do laundry, both of these things I was very capable of doing in America but in Tanzania it was totally different. I remember being so frustrated the first time I made bread from scratch! We ate many meals very late at night because I didn’t realize how long cooking would take when nothing is pre-packaged or prepared. Our teammates, the Shimizu family, were a huge help to us! In the beginning they invited us over for meals many times and would bring any left over food by. This helped me greatly as I struggled to keep food on the table at first (had not yet hired house help.) We were warmly welcomed by our teammates and they understood so many of our struggles. Of course, another big challenge was language. Even though we studied the language fulltime for four months we found that the dialect on the south coast was very different and difficult to understand. Our teammates are from Japan as well so that also presented us with another first. As we were acclimatizing to the Swahili culture we were also learning how to communicate well and be sensitive to our Japanese teammates. However, God really guided and helped us as a team! Being a part of the body of Christ can bring anyone close together. We have many of the same passions and desires and we receive great joy from serving together and learning about each other and our struggles.

Wiebke: For how long will you be living in Lindi?

Lauren: We do not know how long we will be here. We have been in Lindi now for three years and we desire to stay until we feel a peace and direction from God to return home.

Wiebke: What does your work in Lindi consist of? What does a “normal day/week” in Lindi look like for you, your husband and your two boys? 

Lauren: Our weeks can vary a lot. Most of the time however, Jason has several different meetings and Bible studies that he leads throughout the week. We both share in house work and taking care of our 2 sons. Throughout the week I am working with the women at Mama wa Nuru. Mama wa Nuru is a group of women who serve in ministry at different churches all around Lindi. Izumi, my teammate, and I have helped them to begin a small business where they make handcrafts and baked goods. Jason also preaches once or twice a month on Sunday mornings and also works with many local pastors to share the gospel of Jesus through different avenues. Some weeks he has more administrative tasks to take care of with our workers and our organization. Daily life here is very busy but often filled with very different things than you might see in a western society. We constantly have visitors through out the day that we are talking with, something always seems to need fixing around the house, and what seems to be a simple job somehow ends up being complicated in a place with limited resources. We find a lot of joy in being together so much as a family though. Our sons are ages 2 and 4 and keep things fun around the house. Our oldest attends a local pre-school 3 days a week and I also homeschool him a bit on the days he is home with me.

Wiebke: Can you tell us a little bit about the ups and down of your life in Lindi? Were there moments where you wanted or want to go home or doubt your life in Lindi? Which were/are the moments when you experience/feel that you are in the right place at the right time?

Lauren: There are so many ups and downs, sometimes you feel this in one day, and other times its more seasonal. The first month we were here we had what we like to call “oh crap!” moments. Moments when we feel like we have made a terrible mistake and life here is much harder than we ever imagined! However, God always helps us through these times. He guides us, leads us, and reminds us of his goodness and blessing in the struggle. We never came to Lindi to fulfill our own happiness, we came for the glory of God and I think this is what also helps us through hard times. We are confident, even on hard days, that we are where we are supposed to be. Explaining that confidence and how we have it is a bit difficult. The only way I really know how is through my faith. We believe that Jesus sacrificed everything, including his own life so that we might be free from the bondage of our sin. Knowing Jesus and what he has done for us, helps us to want to live selflessly for others. Now believe me, we do not do this perfectly! We struggle all the time with a desire to run from it all but like I said before, God is our strong tower and by his grace we stay for another day, another week, another month, another year. Every year seems to get better as we learn more Swahili and begin to understand the culture more and more as well. It takes time and commitment. We also receive a lot of joy from the work that we do. We love sharing our faith with others and helping people grow in their faith and knowledge of the Bible. I also really enjoy working with the women at Mama wa Nuru. It gives them so much confidence to learn new things and for them to see their talents and ability to earn income and help their families. Some of these women used to ask me for money, now they ask me for work. This is a huge accomplishment in my eyes. They can earn money for themselves which impowers and enables them in so many ways. Seeing this progress and my husband seeing his students grow in their faith and knowledge really gives us a lot of energy to keep going as well. Progress might seem slow going at times, but it’s there and we are thankful to see it!

Wiebke: How do your kids adapt to the life in Lindi? What are the main challenges when living in Lindi as a family with children compared to a life you would be living in America?

Lauren: This might be one of our biggest struggles in this season of life. Our oldest son is now four and though he has lived in Lindi longer than he has lived in America now, he still faces challenges. Just as much as we feel like outsiders at times, I think our son feels this way as well. He looks different, speaks a different language, and has more than most in our community. He does really well when we have one or two children at our home. It gives me a chance to communicate and help him to communicate with his visitors. Most of the time though, one or two kids at our house can multiply to 10 or more very quickly. I think this can be overwhelming at times. I believe he is learning though and it will take time but I hope that he can have some good local friendships in the future. He also attends a local pre-school which gives him opportunity to play with other children. We are very thankful that he is accompanied there by your son Kalle. Their friendship has been so helpful to Si! Both of our boys love the simplicity of life here. They have a nice big yard to run around in, plenty of space to be kids and so many great things that they get to see and experience. They love the ocean and the times when we get to see wildlife. In America I feel we might have many more distractions and obligations as a family. Everyone seems to have their children involved in a million activities. Activities are great, but sometimes I think a more simple life without so much busy-ness can be good for a child and their creativity. I do miss the ease of friendship for my children though. When we are in America it is effortless for my kids to play with others, which is much different than here.

Wiebke: How is your work accompanied by people in Texas? Do you have regular contact to your home church? How do people in Texas see your work in Lindi – which kinds of reactions do you get when you are home?

Lauren: As of now we do not host teams of people or volunteers from Texas. We hope that this will be an opportunity in the future. We are in the beginning stages of building a school and we believe this will be a great way for our community back home or other volunteers to get involved. Our community back home does pray for us and give to us financially. Most of our financial support comes from our home church as well as 3 other churches. We send out newsletters about every three months and we also have a facebook page. When we go home we spend a lot of time traveling to different churches and speaking about our life in Lindi. People are really encouraged by the work God does through us here and they love to hear about how God is moving in different parts of the world. Its always an encouraging time for us to be home!

Wiebke: Thank you very much for this insight!

 

(w)

 

Further Reading / Zum Weiterlesen

Homepage von Serving in Mission (SIM)

Artikel über Familie Shimizu in „SIM heute“ (Schweiz) 01/2010 

Homepage von „Missionare auf Zeit“, weltwärts Entsendeorganisation für junge Freiwillige

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Neonatal Care Training (und Digitalisierung)

You live you learn, you love you learn
You cry you learn, you lose you learn
You bleed you learn, you scream you learn

Alanis Morissette*

 ——— scroll down for English version ——–

Entlang der wunderschönen Ostküste Tanzanias am indischen Ozean verläuft nahezu parallel vom im Norden gelegenen Dar es Salaam eine Teerstraße bis nach Lindi. Folgt man dieser Straße weiter nach Süden, erreicht man schnell eine große Gabelung, an der sich wie so oft ein kleines Dorf namens Mnasi Moja entwickelt hat, das von der Versorgung des dort Pause machenden Durchgangsverkehrs lebt.

Fährt man an der Küste entlang weiter, erreicht man Mtwara, die mit der Regionalverwaltung, verhältnismäßig viel Industrie und dem nächsten funktionierenden Verkehrsflughafen die Hauptstadt der südlichen Zone darstellt.

Biegt man aber an der Gabelung nach Westen ab, gelangt man ins Hinterland: vorbei an den von der katholischen Mission geprägten Städten Nyangao (mit dem Missionskrankenhaus St. Walburg) und Ndanda (mit dem 1906 von Tutzinger Mönchen gegründeten Benediktinerkloster und ebenfalls einem verhältnismäßig großen Krankenhaus), die sich an die Nordkante der großen Makonde-Hochebene schmiegen. Irgendwann erreicht man Songea, ist schon im südwestlichen Hochland und hat es fast bis zum Lake Malawi geschafft. Auf halber Strecke, mitten im flachen Nichts, liegt Masasi.

Hauptstraße von Masasi

Der Lonely Planet schreibt zum Städtchen:

„Masasi, a scruffy district centre and the birthplace of former Tanzanian President Benjamin Mkapa, stretches out along the main road off the edge of the Makonde Plateau against a backdrop of granite hills.“

An der Nordseite der Stadt finden sich zwei kleine und zwei größere Hügel, die aus dem Flachland heraus ragen, als hätte sie ein Riese auf dem Weg zu einem richtigen Gebirge fallen gelassen. Zwischen den beiden kleineren Hügeln liegt in unseren Augen fast idyllisch das Distrikt Krankenhaus Mkomaindo und eine dazugehörige Krankenschwesterschule. Dort fanden wir geeignete Räumlichkeiten für unseren großen Mop-Up Kurs „Neonatal Care Training“.

Doch zuerst ein paar Hintergrundinformationen:

Eines der Probleme, die sich einer guten Pädiatrischen Versorgung innerhalb des Gesundheitssystem in Tansania stellen, liegt in der unzureichenden Ausbildung des medizinischen Personals, insbesondere im Bereich der Neugeborenenmedizin. Spezifische Abteilungen für Neugeborene in den südlichen Regionen gibt es erst seit 2-3 Jahren, und ein Etablieren dieser Fachbereiche war mit intensivem Training verbunden.

Leider ist der Arbeitsmarkt im Gesundheitsbereich sehr dynamisch und es mangelt an jeder Ecke an ärztlichem und pflegerischem Personal, so dass es sehr oft innerhalb eines Krankenhauses oder sogar innerhalb eines Distrikts zu sehr vielen Personalwechseln kommt, die meist fremdgesteuert (= durch eine Leitungsebene) erfolgen, oft auch einfach, weil sich der Bedarf kurzfristig ändert. Weiterhin ist das Konzept der sogenannten „Change-List“, einem regelmäßigen Rotieren des pflegerischen Personals, oftmals gegen deren Wunsch, sehr weit verbreitet. Dazu wurden vor 1 Jahr ca. 15% aller Kräfte aufgrund gefälschter Schulurkunden (auf Abitur-Niveau) entlassen, was den Personalmangel noch verschärfte.

Das alles führte dazu, dass nun, 2-3 Jahre nach den initial durchgeführten Kursen ca. 50-80% des aktuell in den Fachstationen arbeitenden Teams keine spezielle Weiterbildung zu Neugeborenenversorgung hat und damit im Berufsalltag oftmals improvisieren muss.

Aus diesem Grund stellt die Fort- und Weiterbildung des Personals einen zentralen Teil des Projektes „Maternal and Newborn Health“ der GIZ Tanzania unter dem Programm TGPS (Tanzanian German Program to Support Health) dar.

Trainings-Ausrüstung
Mkomaindo Hospital and Training Center, Masasi

Die Herausforderung des Mop-Up-Trainings bestand darin, in vier Tagen so viel Wissen und praktische Übungen wie möglich unter zu bringen und dabei gleichzeitig die unterschiedlichen Ausbildungsstufen (von Krankenschwester-Anfängerin bis zu studiertem Medical Doctor) gleichermaßen anzusprechen.

 

Aus anderen Regionen hatten wir schon einige Vorerfahrungen, trotzdem waren die Vorbereitungen sehr zeitaufwändig, vor allem, weil ich ein PowerPoint-Perfektionist bin, der die didaktischen Möglichkeiten maximal ausloten möchte. So entwickelten wir einen viertägigen Plan mit Vorlesungen im Wechsel mit problemorientiertem Case-Based-Learning, Szenarios und praktischen Übungen.

Am ersten Tag lag der Schwerpunkt in Neugeborenen-Reanimation und initialem Staging mit APGAR und unserer NTC-Card, Tag 2 arbeitete sich an den drei wichtigsten Krankheitsbildern (Asphyxia, Sepsis und Gelbsucht) ab, an Tag drei ging es um Essential Newborn Care, KMC (Kangoroo Mother Care) und Füttermengen, einem durch das sehr häufige Auftreten von Frühgeburten bzw. bei Geburt untergewichtigen Babies (LBW) sehr wichtigen Thema. Tag vier beschäftigte sich abschließend mit Möglichkeiten der Qualitätsverbesserung durch IPC (infection prevention and control), MPDSR (maternal perinatal death surveillance and response) sowie gute Dokumentation und Entlassmanagement.

Arbeiten mit der Newborn Triage Checklist
Beatmungsübungen

In beiden Regionen kam der Kurs sehr gut an und neben der ungewöhnlichen Präsentationsweise wurde vor allem die viele Praxis gelobt. Jetzt bin ich gespannt, wie das neue Wissen im klinischen Alltag umgesetzt werden kann und ob sich möglicherweise die Versorgungsroutine sogar verbessern kann.

Auch wenn es in Lindi und Masasi jeweils vier sehr anstrengende Tage waren und am Ende alles doch überraschend schnell vorbei war, hatten wir eine sehr schöne Zeit. Es hat großen Spaß gemacht, mit meinem Team zu arbeiten: wir hatten neben meinem GIZ-Kollegen Zamoyoni aus Mtwara zusätzlich pro Training 3 tansanische Facilitator dazu geholt, für die der Rollenwechsel zum Lehrenden zum Teil auch neu war. Aber ich hatte abschließend das Gefühl, die Euphorie, Wissen aufzubereiten und praktisch an andere zu vermitteln, sogar ein bisschen weiter gegeben zu haben. Wir stellen das für das Training erstellte Material im Anschluss den Regionen zur Verfügung und wünschen uns, dass es derartige Trainings möglicherweise in kleinerem Maßstab auch innerhalb der Kliniken geben wird.

Und nach tagelangem Nerven habe ich es auch geschafft, zwei Kollegen davon zu überzeugen, unbedingt einen der  großen Berge von Masasi zu besteigen – natürlich ohne Route oder „Wanderwege“. Die Bilder finden sich in der Galerie.

Gruppenarbeit mit Dummy

Generation Smartphone

Der größte Impact, soweit man das jetzt schon sagen kann, bestand jedoch rückblickend in der Einführung einer über beide Regionen reichenden WhatsApp-Gruppe aus Kinderärzten und Kinderkrankenschwestern, ergänzt um Fachärzte aus Dar es Salaam. So erschafften wir erstmals ein grenzüberschreitendes Forum und einen sicheren Rahmen, in dem Unsicherheiten, Fragen und schwere Fälle geteilt und gemeinsam diskutiert werden können.

Eine derartige Gruppe hatten wir auch nach einem Training für das Kreisaal-Personal zur Asphyxia-Vermeidung eingeführt und die Resonanz war so positiv, dass es jetzt vom Gesundheitsministerium als Prototyp für alle anderen Regionen angewendet werden soll.

Dieses Beispiel steht für mich stellvertretend für die Herausforderung, die Entwicklungszusammenarbeit in der heutigen Zeit mit technischem Fortschritt, Digitalisierung und grenzenlosen Kommunikationsmöglichkeiten bietet: es gibt unendliche viele technische Lösungsmöglichkeiten, aber es fehlt an Geld und Personal und am Ende sind es ja echte Menschen, die das Neugeborene reanimieren müssen. Man muss also idealerweise die Art von Technologie nutzen, die bereits universell auch in „Low Income Countries“ verbreitet sind. Und irgendwie landet man am Ende fast immer beim Smartphone.

Immer mehr Entwicklungshilfe-Projekte versuchen nun, Smartphones als Allzweck-Hilfsmittel für bessere Medizin zu nutzen, sei es als direktes Tool oder als Quelle für Fortbildung und Wissen. Das ganze nennt sich dann mHealth.

 

Zwei spannende Beispiele:

PICTERUS
Eine norwegische Forschergruppe will durch Fotografie der Haut neben einer Farb-Karte mit dem Smartphone den Bilirubin-Gehalt abschätzen. Farbfehler des Kamera-Chips des Handys und des Umgebungslichtes (Farbtemperatur, Tonwertkurve usw.) werden durch die ebenfalls mit dem Kamera-Chip fotografierte Farbkarte herausgerechnet. Ich hatte mit dem Entwickler bereits guten Kontakt, weil das Programm in Tansania eine Pilotphase bekommen soll.

JamboMama
Ein Tool zur Kommunikation mit schwangeren Frauen in isolierten Regionen, zur Übermittlung von Wissen und Erkennung von Schwangerschaftskomplikationen.

Mehr zum Thema Digitalisierung im Gesundheitssektor in der Entwicklungshilfe demnächst…

(P)


 ——— English version ——–

Newborn Training (and Digitalization)

Along the wonderful east coast of Tanzania, touching the Indian Ocean, from the northern Dar es Salaam a tarmac road follows its route down to Lindi. Continuing this road further South, you will reach a junction, which lead to the ongoing growth of a village called Mnasi Moja, thriving from supplying the traffic breakers.

If you follow the road further south along the coastline, you will reach Mtwara, which is the capital of the southern region with its regional administration and an almost urban feeling, including some industrial buildings and the only regularly operated commercial airport in the region.

The road turning west leads into the hinterland: past the Catholic cities of Nyangao (with the Mission Hospital St. Walburg) and Ndanda (with the Benedictine Monastery founded in 1906 by Tutzing monks, including a large hospital) nestling on the northern edge of the great Makonde Plateau. At some point you reach Songea, which is already part of the southwestern highlands and you almost made it to Lake Malawi.

Halfway down, in the middle of flat nothingness, lies Masasi. The Lonely Planet writes:

„Masasi, a scruffy district centre and the birthplace of former Tanzanian President Benjamin Mkapa, stretches out along the main road off the edge of the Makonde Plateau against a backdrop of granite hills.“

 

The city is surrounded by two larger hills to the north and two smaller hills in between, that jut out of the ground as if they were dropped by a giant who was on his way building a real mountain range.

Between the smaller hills lies the district hospital Mkomaindo and its nurse school, almost idyllic to our western eyes. This was the perfect premises for our mop-up course „Neonatal Care Training“.

 

Before getting into detail, here is some background information:

one of the major problems of high quality pediatric care within the health care system in Tanzania is the inadequate education of medical staff, especially in neonatal medicine.

Specific departments for newborns in the southern region have only existed for about 2-3 years, and at the time they were established, a lot of intensive training was carried out.

Unfortunately, the health market is very dynamic, and there is a shortage of medical and nursing staff everywhere, so that there are many changes in personnel, often within a hospital, or even within a district, on a regular bases. Those changes are externally controlled (= by management level), often caused by changing demand, often at short notice, often without consent of the employee. In addition, the concept of the so-called „change list“, a regular routing of the nursing staff, is common.

In summer 2017, roughly 15% of all health workers were dismissed due to fake school certificates, which aggravated the staff shortage.

Considering those developments, it does not seem surprising, that now, 2-3 years after the initial training packages, 50-80% of the staff currently working in the specialist departements has no special training on neonatal care. Improvisation is part of everyday professional life. For this reason, training of the staff is a major issue in our GIZ project „Maternal and Newborn Health“.

The challenge of mop-up training was to pack as much knowledge and hands-on training as possible in four days, while addressing all the different levels of education (from nurse novice to graduate medical doctor).

Although having experience from other regions, the preparations were very time consuming, especially because I am a PowerPoint perfectionist, who wants to explore the didactic possibilities to the maximum. Therefore, we developed a four-day plan with lectures alternating with case-based learning, group work scenarios and practical exercises.

The first day focused on neonatal resuscitation and initial staging with APGAR and our NTC card, Day 2 focused on the three major diseases (asphyxia, sepsis, and jaundice), and on Day 3, we planned Essential Newborn Care, KMC (Kangoroo Mother Care) and feeding amount calculation, which is essential with frequent cases of premature / low birthweight babies. Finally, Day Four looked at Quality Improvement Methods with IPC (infection prevention and control), MPDSR (maternal perinatal death surveillance and response), and documentation and discharge management.

Even though it was four very exhausting days both in Lindi and Masasi, and in the end everything went over very quickly, we had a really good time. It was great fun to work with my team: in addition to my GIZ colleague Zamoyoni from Mtwara, I had brought in three Tanzania facilitators. In the end, I had the feeling that I was able to convey the euphoria, to edit and prepare knowledge and to convey it to others. We will make the material accessible, created for the training and do sincerely hope, that some champions will adapt those materials for such training on a smaller scale within the hospitals.

And after three days of bugging, I also managed to convince two colleagues to climb one of the large mountains of Masasi – of course without a route or „hiking trails“. The pictures can be found in the gallery.

However, the biggest impact, as far as we can tell, was the introduction of a WhatsApp group of paediatricians and pediatric nurses across both regions, supplemented by a few specialists from Dar es Salaam. For the first time, we were able to create a cross-border forum, in which questions and difficult cases can be shared and discussed together beyond uncertainty (We had introduced such a group for staff of maternity ward, after carrying out a training session on prevention of asphyxia, and the response was so positive, that this concept of an easy-access cross-border low-threshold forum, now will be adapted by the Ministry of Health as a prototype for all other regions.

Generation Smartphone

For me, this example typically represents the essential aspects of the challenge to make use of technological advances, digitalization and unlimited communication in the context of development aid: there are endless technical solutions, but there is a lack of money and staff, and in the end, you need real people to resuscitate the newborn with their hands. That means, you need a low-cost wide-range approach using the technology that is already universally used in „low income countries“. And somehow, almost always you end up with the smartphone .

More and more development aid projects are trying to make use of the smartphone as a universal tool for better medicine, either as a direct tool or as a source of training and knowledge. The whole thing is called mHealth.

Two exciting examples:

PICTERUS
A Norwegian research and start-up group wants to estimate the bilirubin content by photographing the skin with a smartphone next to a color chart. Color errors created by the camera chip of the phone and the ambient light (color temperature, tone curve, etc.) are calculated out by comparing with the colors of the chart also photographed with the camera chip. I already had great communication with the developer, since they are planning to start a pilot phase in Tanzania.

JamboMama:
A tool to communicate with pregnant women in isolated regions, to share knowledge and to early detect pregnancy complications.

Coming up: an article reflecting on digitalization and the impact on development work in the health sector..

(P)

 

Further Reading:

Article from  BMC: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5678803/

Other mobile health improvement apps:https://mashable.com/2016/03/13/apps-maternal-health/#FE8hSUl9.gqw

An NGO article: http://www.globalproblems-globalsolutions-files.org/unf_website/assets/publications/technology/mhealth/mHealth_applications.pdf

Market Analysis: https://liquid-state.com/mhealth-apps-market-snapshot/

Hungarian page on (western) aspects of digitization in health: https://medicalfuturist.com

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Infos zu den Liedtexten finden sich hier.


Über das Essen

I got a passion for fast-food /
its undeniable /
I like my food fried until /
Everything be the same shade/
Of gold and brown

Abdominal (feat. DJ Format)*

 

Zu Beginn des Ramadan, dem muslimischen Fastenmonat, geht es heute um etwas Fundamentales: Essen! Der allergrößte Teil der Bevölkerung in Lindi fastet seit dem 17. Mai von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, Kinder beginnen ab etwa sieben Jahren. Das heißt, dass sowohl nichts gegessen, als auch nichts getrunken werden darf. Vor allem Letzteres ist für uns bei hiesigen Temperaturen schlicht unvorstellbar. Auch die körperliche Arbeit, die die meisten Menschen tagein tagaus leisten (müssen) ist ja gleichbleibend (landwirtschaftliche Flächen bearbeiten, Wasser tragen, Wege zu Fuß zurücklegen, Wäsche mit der Hand Waschen, Haus-/Straßenbau ohne Maschinen u.v.m.), so dass wir uns wirklich fragen, wie die TansanierInnen ihre Leistungsfähigkeit aufrecht erhalten. Genau wie vor ziemlich genau einem Jahr, als wir im Mai 2017 zum ersten Mal in Lindi ankamen, werden viele der kleinen Straßenküchen also nun für vier Wochen erst nach 18:00 angefeuert und es gibt tagsüber kaum Essen auf der Straße.

Fragt man unsere Kinder, was sie aus Deutschland vermissen, so fallen, nach Verwandten und FreundInnen, eigentlich unmittelbar Begriffe aus der kulinarischen Ecke: Brezen, (Gouda)käse, Gelbwurst, Wienerle, Obstquark, Spinat, „richtiges Brot“, drei im Weckla… Nun soll es aber im Folgenden nicht darum gehen, was es hier NICHT gibt, sondern viel mehr darum, was seit einem Jahr alternativ auf unserem Speiseplan steht. Der Einfachheit halber sortiere ich nach Tageszeiten und versuche auch, einen kleinen Einblick in Essen und Essensgewohnheiten der lokalen Bevölkerung zu geben, soweit wir sie bislang mitbekommen haben:

Frühstück

Unser gewohntes Müslifrühstück haben wir uns mittlerweile erfolgreich zusammengebastelt: es gibt (oft) Haferflocken, Cornflakes und Weetabix zu kaufen, auf dem Markt Rosinen und tonnenweise Cashewnüsse. Dank Philipps regelmäßiger beruflicher Verpflichtungen in Dar es Salaam waren wir die letzten Wochen sogar mit einem fertig gemischten Müsli versorgt. Milch kann man kriegen, jedoch kostete der Liter (nicht bio) knapp 2 Euro (so viel wie ein halbes Huhn). Yoghurt gibt es aus Iringa; das liegt im bergigen Hochland ca. 1000 km nordwestlich von Lindi. Obst dazu ist aktuell, zum Ende der Regenzeit, kein Problem: Ananas, Mango, Papaya, Bananen, Wassermelonen, … gibt es in Hülle und Fülle. Das wird sich in der Trockenzeit wieder ändern.

Viele TansanierInnen in Lindi frühstücken nicht, bevor sie morgens das Haus verlassen.  Sie essen in Gesellschaft in einer der Straßenküchen – typischerweise Fleischsuppe mit Chapati oder Bohnen mit Chapati – einige Zeit nach Arbeitsbeginn (ganz grob gesagt zwischen 8:00 und 11:00). Die Kinder in Ronjas Schule bekommen gegen 10:00 eine Tasse Tee und ein Brötchen und auch unser Gärtner Hamisi und Mama Fatuma machen gegen 10:00 Pause mit Snack und Tee.

Fleischsuppe mit Chapatai (Köchin hinten)
Frühstücksküche

Mittagessen

Die Kinder und ich essen mittags, sobald Ronja aus der Schule kommt (gegen 12:30). Unsere Haushälterin Mama Fatuma kocht unter der Woche das Mittagessen und hat es mittlerweile absolut raus, was beliebt ist (Popcorn) und was eher nicht (Kochbananen). Das Angebot ist generell regional und saisonal bestimmt – die Nachfrage regelt ganz klar das Angebot. Wir essen mittags also unter anderem Ughali (eine Art Polenta aus Maismehl), Reis, Bohnen, Mchicha (eine Art Spinat), Mchuzi (Tomatensoße mit Kokosmilch und variierendem Gemüse), Chipsi Mayai (Pommes im Spiegelei – die Kinder lieben es!), Chapati, Nudeln, Tomatensalat und Fisch. Aktuell gibt es jede Menge leckere Kürbisse und das ganze Jahr über (bzw. gegen Ende der Trockenzeit eigentlich nur noch) Cassavawurzeln, die man sowohl frittiert als auch gekocht essen kann. Regelmäßig kommen mobile Fischverkäufer vorbei, bei denen wir frischen Fisch bekommen. Hühner kauft man lebendig, z.B. bei unseren Nachbarn. Generell wird eigentlich jedes Gericht mit Kokos gekocht. Das Kokosfleisch hierfür wird mit einem speziellen Gerät aus der Kokosnuss ausgekratzt – Mats sitzt gerne bei Mama Fatuma, wenn sie das macht, und klaut sich die Kokosraspeln.

Mats wartet auf seine Chance auf Kokosraspeln.
Mittagessen: Ughali na mchuzi (Ughali mit Soße)

Das Mittagessen hat für die TansanierInnen einen geringeren Stellenwert als für uns: viele Erwachsene essen den Tag über (nach dem späten warmen Frühstück zwischen 8 und 11) nichts mehr. In Ronja´s Schule gibt es um 13:00 für jeden einen Teller Reis mit Bohnen. Das aufwändigste Essen des Tages findet abends statt.

Abendessen

Bei uns auch „Abendbrot“… Um Körnerbrot zu vermissen, muss man nicht bis Tansania reisen – da reicht auch die Fahrt über die deutsche Grenze, eigentlich ziemlich egal in welche Richtung. Nun gibt es in Lindi durchaus Brot zu kaufen, dieses würde jedoch in Deutschland bestenfalls als helles Toast durchgehen. Wir haben also ziemlich schnell angefangen, selber Brot und Brötchen zu backen, was nach einer kleinen Annäherungsphase an den Gasherd mittlerweile auch super klappt. Was kommt aufs Brot drauf? Gesalzene Margarine gibt es in Hülle und Fülle, seit Anfang Mai sogar Butter! Derselbe indische Händler verkauft seit kurzem tatsächlich auch Käse – 1kg tiefgefrorenen Cheddar aus Neuseeland bekommt man für schlappe 28 Euro (entspricht 70.000 tansanischen Shilling; durchschnittliches Monatsgehalt eines ungelernten Arbeiters: 200.000 TSH). 1,8 kg Le Gruyere aus der Schweiz kann man in Dar es Salaam für 137 Euro kaufen – der Preis spiegelt ein Stück weit den Beschaffungsaufwand wider, was bei vielen Nahrungsmitteln in Deutschland meiner Meinung nach nicht gegeben ist. Zur Freude der Kinder schafft es Nutella (im flüssigen Zustand) bis nach Lindi (das bringt einen zum Nachdenken, wenn man bedenkt, was es alles nicht bis nach Lindi schafft), das haben wir allerdings nicht konstant im Haus.

Luxus-Käse (nur im Laden!)
Frisch aus dem Ofen

Für die TansanierInnen ist das Abendessen das aufwändigste Essen des Tages. Es gibt generell warme Speisen (sehr beliebt: Pilau, Gewürzreis mit u.a. Zimt und Kardamom) und die Tatsache, dass wir von „nur Brot“ abends satt werden führt regelmäßig zu Kopfschütteln – die ersten Monate fragte Mama Fatuma generell, was sie für abends kochen sollte, bevor sie nach Hause ging.

Mwajuma knetet Teig für Samosa.

Manche der tansanischen Familien, die wir bislang kennengelernt haben, essen nicht wie wir am Tisch, sondern sitzen zum essen auf dem Boden und essen von einer gemeinsamen Schale. Gegessen wird in diesem Fall nicht mit Besteck, sondern mit den Händen, was uns vor verschiedene Herausforderungen stellt. Zum einen ist das Essen natürlich heiß (Finger verbrennen beim Essen führt zu großer Erheiterung bei den Gastgebern), zum anderen geht unter Umständen das ein oder andere auf dem Weg zum Mund verloren, wenn man eigentlich Besteck gewöhnt ist. Mats kommt dieses Vorgehen allerdings sehr entgegen.

Street Food (oder auch „frittierte Kohlenhydrate zum mitnehmen“)

Zu unserer großen Freude gibt es (wenn nicht gerade Ramadan ist) eine Vielzahl von Möglichkeiten, unterwegs und unkompliziert günstiges Essen zu kaufen. Ein sehr typisches und an jeder Ecke erhältliches Essen ist „Mandazi“ (auch „Suaheli Brötchen“ oder „Ostafrikanischer Doughnut“) – ein frittiertes Gebäck, am ehesten zu beschreiben als Krapfen (oder „Berliner“) ohne Marmelade und Puderzucker. Ebenfalls in die frittierte Ecke gehören die Samosa, mit Gemüse und/oder Fleisch gefüllte Teigtaschen aus Indien. Auch Chipsi Mayai bekommt man an jeder Ecke – Pommes, die in speziellen kleinen Pfannen in Rührei eingebacken werden. Weiterhin kaufen wir regelmäßig Chapati, Fleischspieße und Chicken, um es mit nach Hause oder auf eine Autofahrt zu nehmen. Sehr praktisch bei längeren Autofahrten sind die Verkäufer mit Cashew Nüssen, die generell am Straßenrand auf Kundschaft warten. Beliebtes Street Food ist außerdem die Cassava Wurzel, im essbaren Zustand „Mihogu“ genannt. Sie wird in Sonnenblumenöl frittiert oder gekocht und mit Salz gegessen. Tansania steht laut Agrarstatistik der FAO von 2016 mit 5,5 t jährlich an Platz 11 der größten Cassavaproduzenten weltweit (im spanischsprachigen Lateinamerika spricht man von „Yuka“, im Ursprungsland der Pflanze Brasilien, Argentinien und Paraguay von „Mandioca“).

Chicken- und Spießegrill

Einkaufen (von der Hand in den Mund)

Gekocht wird so gut wie ausschließlich aus frischen Zutaten. Die Mehrheit der Häuser ist ohne zuverlässigen Stromanschluss und ohne Kühlschrank, so dass alles, was zum kochen benötigt wird, unmittelbar vorher eingekauft oder geerntet wird. Übrigbleibendes Essen aufzubewahren ist für hiesige Verhältnisse wirklich ungewöhnlich und geht in unserem Haus so richtig gut auch erst seitdem wir die leistungsstarke Solaranlage auf dem Dach reparieren lassen konnten, die seitdem übernimmt, wenn der staatliche Strom in ca. 50% der Zeit nicht da ist. Problem bei der Vorratshaltung ist – neben der fehlenden Kühlmöglichkeit – das Ungeziefer. Die Häuser sind an allen Ecken und Enden offen (keine Fensterscheiben, Türen generell offen, vielfach keine Zimmerdecken), so dass Mäuse und Ratten ein und aus gehen. Krabbeltiere (Ameisen etc.) sind eh an der Tagesordnung, so dass das Aufbewahren von Nahrungsmitteln zur Herausforderung wird. Einfacher ist daher: Was gekocht wird, wird im Vorfeld gekauft und anschließend gegessen. Fertiges Essen ist somit nicht konstant verfügbar (nach dem Motto Kühlschrank auf, Yoghurt raus) und etwas sehr Besonderes. Das merken wir vor allem an den Kindern, die zum spielen zu uns kommen und gerne zugreifen, wenn wir Obst oder Kekse auspacken. Ein Kollege von Philipp sagte kürzlich zu mir (nachdem ich eine Einladung zur Teepause dankend abgelehnt hatte): „Wir haben hier eine chronische Nahrungsmittelknappheit in Afrika – wenn es Essen gibt, dann essen wir es!“

 Wenn nicht selbst geerntet so werden die Nahrungsmittel auf dem Hauptmarkt im Stadtzentrum oder bei kleineren Obst- und Gemüseständen eingekauft. Zusätzlich gibt es verschieden große „Tante Emma Läden“, die von Spül- und Waschmittel über Zucker und Salz, Reis, Nudeln und Bohnen, Schuhputzzeug, Besen, Küchenutensilien und oftmals ein paar Bahnen Stoff alles führen, was man zum Leben braucht. Dazu kommen indische Händler, die vor allem indische Lebensmittel anbiete, denn bis Mitte der 60er Jahre lebten schätzungsweise 15.000 indisch stämmige Menschen in Lindi – heute sind es deutlich weniger, aber es gibt immer noch eine große indische Gemeinde sowie einen Hindutempel. Mitte April 2018 eröffnete ein Supermarkt einer überregionalen Kette in Lindi, der aktuell kontinuierlich seine Regale füllt. Die Produktpalette bleibt abzuwarten!

Im indischen Großhandel in Lindi
Preisverhandlungen mit dem Fischhändler

Dass Lebensmittel entweder selbst angebaut oder auf dem Mark für den jeweiligen Tagesbedarf gekauft werden hat den großen Vorteil, dass kaum Verpackungsmaterial anfällt. Dies passt wiederum zum aktuellen Müllmanagement in Lindi – alles, was nicht in irgendeiner Form weiterverwendet werden kann wird privat verbrannt. Die Zukunft dieses Themas bleibt abzuwarten – wenn sich parallel zum neuen Supermarkt und dem deutlich anderen Warenangebot (Windeln, Konservendosen, Sprühdeos, …) nicht auch die städtische Müllabfuhr entwickelt kann ich mir aktuell nicht vorstellen, wo die neuen Mengen und Sorten von Müll bleiben werden.

Orangeneinkauf

Und was wollen wir trinken?

Während der Regenzeit (Februar – Mai) gibt es kein Wasserproblem – Alle fangen das Regenwasser in mehr oder weniger professionellen Regenrinnensystem auf (je nach Finanzkraft gibt es Regenwasserreservoirs von bis zu 50.000 Liter) und füllen Tanks und Eimer damit. Auch wir haben einen 3.000 l Regenwasssertank am Haus nachgerüstet, der sich regelmäßig füllt. Das Wasser fließt dann per Pumpe in den Hochtank und von dort aus ins Haus.Nun neigt sich die Regenzeit aber dem Ende zu und spätestens im Juni ist sie dann ganz vorbei.  In der Trockenzeit holen die Menschen in Lindi ihr Wasser aus Brunnen, die es in der Stadt an vielen Ecken gibt. In den Bereichen, wo kein Grundwasser erreichbar ist (wie zum Beispiel in unserem Stadtteil Mitwero) müssen die Menschen für ihr Wasser sehr weit laufen, oder aber Wasser kaufen. Wir trinken sowohl das Regenwasser als auch gekauftes Wasser ausschließlich nach Durchlaufen durch unseren Keramikfilter; die Einheimischen trinken das Wasser auch ohne Vorbehandlung. Wenn auswärts gegessen wird gibt es in der Regel „Soda“, also Softdrinks wie Fantavariationen u.ä. Alkohol wird wenig konsumiert. Bier in Kästen gibt es an genau einer Stelle in der Stadt zu kaufen und die Staubschicht auf den Flaschen zeugt von eher längeren Lagerzeiten. Frische Fruchtsäfte gibt es für unseren Geschmack in Lindi zu selten, betrachtet man das vielfältige Obstangebot. Zu Hause machen wir regelmäßig Maracuja-, Orangen-, Ananas- und Mangosaft.

Neben Wasser, Bier und Fruchtsäften sind wir auf eine gewisse Menge an Koffein täglich angewiesen – die lokale Variante mit Instant-Kaffepulver machen wir nur in Notfällen mit. Wir führten mehrere Field-Researches durch und kuckten uns von Anfang an die System der verschiedenen anderen ausländischen Familien an, um richtigen Kaffee zu kochen. Mittlerweile haben wir einen optimalen Weg gefunden: 92°C heißes Wasser durch einen Edelstahlfilter mit leckerem Kaffeepulver aus Dar es Salaam. Keep it simple! Und der Kaffee schmeckt!

Hamisi presst Orangensaft
Käffchen?

Zusammenfassend finde ich, dass wir eine gute Mischung aus dem lokalen Angebot mit Altbekanntem gefunden haben. Vor allem in der ersten Zeit war es für die Kinder wichtig, bei all der neuen Umgebung mittags am Essenstisch nicht mit noch mehr extrem Neuem konfrontiert zu werden – mittlerweile essen sie Ughali mit den Händen wie die Profis, spielen Chapati rollen statt Pfannkuchen machen und freuen sich weiterhin über Pudding aus mitgebrachtem Puddingpulver. Und eins ist gewiss: in unseren zwei Wochen Deutschlandurlaub Anfang Juni werden wir so viele Eisbecher essen wie möglich – dem Eis in Lindi merkt man die ständigen Stromausfälle eindeutig zu sehr an…

(w)

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Tagesausflug nach Mikindani

Heute kommt ein kleiner Einblick in unser letztes Wochenende! Nachdem Philipp nach fast vierzehn Tagen Reise (Fortbildung für 64 Krankenschwestern in Kilwa, WHO Konferenz in Uganda) wieder zurück nach Lindi kam feierten wir zunächst seinen Geburtstag und machten heute einen Tagesausflug nach Mikindani,90 km südlich von Lindi und laut Reiseführer (Loose, Stefan 2014: Tansania) „ein wahres Juwel tief im Süden“. Dies lässt aufhorchen, da unser Reiseführer die Region, in der wir aktuell leben ansonsten eher launisch schildert: „Je weiter südlich man fährt, desto stärker wird das Gefühl, in einem einem längst vergessenen Niemandsland unterwegs zu sein. (…) Heute gibt es in der Gegend von Lindi weder Industrie noch eine nennenswerte Agrarwirtschaft (…) Einige Missionare, Lehrer und Ärzte karitativer Organisationen halten unbeirrt die Stellung. (…) Für Touristen hat der Ort kaum Bedeutung, außer als Zwischenstopp zum Einkauf von Gemüse.“ (Loose 2014, S. 242f).

Mikindani war im 15. Jahrhundert – wie zahlreiche weitere Häfen an der Swahili Küste – ein bedeutender Umschlagplatz für Elfenbein, Sklaven und andere Waren. Es verfügt über einen gut geschützten Naturhafen und war somit Anlaufstelle für arabische und indische Handelsschiffe. Eine Gedenktafel im Ort erinnert heute an Livingstones letzte Reise auf der Suche nach den Quellen des Nils, die 1866 in Mikindani begann. In den 1880er Jahren erreichten die Deutschen Mikindani, bauten einen Verwaltungssitz („Boma“) sowie Befestigungsanlagen und verschifften die Agrarerzeugnisse des Umlandes (v.a. Sisal, Kokosnüsse, Kautschuk) nach Deutschland. Auch der Sklavenhandel wurde wieder aufgenommen.

Mit dem Bau von Mtwara (10 km südlich von Mikindani) wurden alle wichtigen Einheiten dorthin verlegt und Mikindani verlor (ebenso wie Lindi) schlagartig an Bedeutung. Der ehemalige deutsche Verwaltungssitz von 1895 wurde nach aufwendiger Restauration 2001 als Hotel eröffnet und gilt heute als das beste Hotel Südtansanias. Für uns ist es ein willkommenes Ausflugsziel. Die Kinder (und wir) lieben mittlerweile bereits die Fahrt dorthin, den Pool, das leckere Essen, Milcheis zum Nachtisch und die vielen Affen, die in den Palmen rund um den Pool herumturnen.

Blick ins Foyer mit Korallengestein wie in Kilwa
Blick aus dem ersten Stock

Ein willkommener Unterschied zu Lindi ist die Selbstverständlichkeit, mit der man dort als AusländerIn begrüßt und behandelt wird. Durch die Vielzahl an Touristen und Tagesgästen ist man als „mzungu“ keine Sensation sondern Normalität, die wir in Lindi oft vermissen. So trifft man in der Regel auch zufällig Bekannte. Heute: ein holländisches Paar, Pim und Inge aus Nijmegen, mit ihrem dreijährigen Sohn Mess, die zur Zeit als Ärzte im St. Walburgs Krankenhaus in Nyangao, 75 km südwestlich von Lindi arbeiten. Außerdem machten wir Bekanntschaft mit einem französisch/britischen Paar, dass vor zwei Tagen aus Costa Rica nach Tansania kam und nun überlegt, eine aktuell stillgelegte Tauchbasis in Mikindani, das eco2 Dive Center, zu kaufen und mit neuem Leben zu füllen. Eine spannende Entwicklung, die wir sicher weiter verfolgen werden! Außerdem fand dann noch die Jahrestagung deutscher christlicher MissionarInnen statt (Schwerpunkt Mbesa) – in kürzester Zeit füllte sich die Poolregion am Nachmittag also mit deutsch sprechenden Menschen, was wir regelrecht verwirrend fanden. Gegen 18:00 traten wir den Rückweg an, um nicht zu lange in der Dunkelheit unterwegs zu sein.

 

(w)

Zum Weiterlesen:

 

Mikindani - Sklavenmarkt und Boma

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A long year

I jumped in the river, what did I see?
Black-eyed angels swam with me
A moon full of stars and astral cars
And all the figures I used to see

Radiohead – Pyramid Song*

 

(dieser Text wurde am 22. April in Transithallen, Wartezonen und Flugzeugen auf dem Weg von Lindi nach Entebbe verfasst).

Heute ist es auf den Tag genau ein Jahr her, dass wir Mats Taufe und unser wunderbares Abschiedsfest auf der Jugendfarm gefeiert haben. Mit dem Abschiedsfest jährt sich auch zum ersten Mal der nächtliche Treppensturz meiner Mutter, auf Grund dessen wir unseren Abflug verschoben und der letztendlich zwei Monate später zum Tod meiner Mutter geführt hat. Je näher dieses Datum rückte, desto unruhiger wurde ich innerlich, obwohl ich eigentlich durch eine aktuell sehr hohe Arbeitsbelastung kaum Zeit für freie Gedanken hatte. Während ich diese Zeilen schreibe, ziehen unter mir die Wolken über den glänzenden Wellen des indischen Ozeans vorüber; ich fliege von Mtwara nach Daressalam, und von dort aus über Nairobi weiter nach Entebbe in Uganda, um dort an einer WHO-Tagung teilzunehmen. Ich weiß noch nicht, ob es gut ist, an solchen Jahrestagen selbst durch das Reisen abgelenkt zu werden oder lieber in Ruhe irgendwo mit meiner Familie zu sitzen und über das letzte Jahr zu sprechen? Aber das werden wir nachholen, wenn ich zurück bin.

Es ist unglaublich wie schnell die Zeit vergeht. In einigen Tagen wird es auch schon wieder fünf (!) Monate her sein, dass ich den bisher schwersten Gang meines Lebens antreten musste, aber es beschäftigt mich immer noch fast täglich.

Als wir uns Ende Oktober 2016 für ein auf zwei Jahre ausgelegtes Leben als Familie in Tanzania entschieden haben, wusste ich gerade mal 2 Wochen von den neu diagnostizierten Lungenmetastasen meines Vaters. Der Krebs (Urothel-CA, ED 2006) selbst war schon Alltag geworden in meiner Familie, wie es nun einmal ist in der Generation meiner Eltern; geboren in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs und aufgewachsen in einem sich zwischen Altnazis und Revoluzzern, Wirtschaftswunder und Mauerbau, Nierentisch und Lavalampe neu erfindenden Deutschland der 50er und 60er Jahre. Über eigene Gefühle und Sorgen wurde in meiner Familie nicht gesprochen. Der Krebs gehörte dazu, man kümmerte und arrangierte sich.

Mein Vater hatte schon einige größere und kleinere Eingriffe hinter sich gebracht, die teilweise zu deutlichen Einschränkungen des Alltages geführt hatten (Stichwort Neoblase), von ihm aber mit Stoizismus und Eigenwillen getragen wurden. Zuletzt hatte er 2016 durch eine lange nicht bemerkte Stauung am Blaseneingang beinahe seine verbleibende Niere verloren und wochenlang mit der Angst um ein erneutes Rezidiv als mögliche Ursache leben müssen. Aber er hatte schon immer einen bewundernswerten Optimismus und bislang jeden Rückschlag abgestritten mit den Worten „das wird schon“. Meine Mutter war ganz in Ihrer Rolle als medizinische Assistentin aufgegangen, die immer alle Termine auf dem Schirm und alle Medikamente parat hatte.

Nun also Lungenmetastasen. Oktober 2016.
Wiebke und ich hatten über das Thema lange gemeinsam gesprochen und ich erinnere mich noch sehr gut an den bewölkten Herbsttag, an dem ich mit meinem Vater durch den braun-rot gefärbten Schlossgarten spazierte und versuchte, mit ihm über die anstehenden 2 Jahre zu sprechen. Ich hatte in den letzten Jahren Immer unter der „Doppelrolle“ Sohn und Mediziner gelitten, aber dieser Moment war unglaublich schwer. Was sollte ich denn auf die Frage antworten, ob ich glaube, dass mein Vater die nächsten 2 Jahre überleben wird oder nicht? Ich habe seinen unverändert bestehenden Optimismus umkommentiert stehen gelassen und war von tiefem Herzen dankbar für seine Eindeutigkeit, in der er mir sagte, wir sollen dieses Projekt bloß machen, er wisse doch, wie lange ich mir schon wünschte, als Arzt im Ausland arbeiten zu können, und er werde das alles schon schaffen. Und uns besuchen. Und ich glaubte auch daran.

Während wir uns in unsere Vorbereitungen für dieses Riesen-Familienprojekt stürzten, sahen wir zu, wie mein Vater von Chemotherapie zu Chemotherapie ging, und dabei trotz allem immer der „Fels in der Brandung“ blieb, als den ich ihn in so vielen Dingen erlebt hatte, mit einer beneidenswerten inneren Ruhe und Optimismus (diese Formulierung habe ich auch mit der Pfarrerin in der Trauerrede verwendet). Natürlich merkten wir auch, wie die ganzen Strapazen an ihm zehrten: er war noch vergesslicher als sonst, hatte Mühe, konzentriert zuzuhören und reagierte sehr launisch, wenn er etwas vergessen hatte. Der Umgang meiner Eltern miteinander verhärtete leider zusehens.
Die Unterstützung meiner Eltern für uns und unser Projekt stand jedoch nie außer Frage: uns wurde geholfen und unterstützt, wann sie konnten.

Voller Freude und auch Stolz genossen meine Eltern die Taufe von Mats und das anschließende Abschiedsfest auf der Jugendfarm. Die Stimmung war trotz allen Abschiednehmens gelöst, voller Aufbruch und Bewegung.
Am nächsten Morgen kam dann der Anruf von meinem Vater.

Die folgenden Wochen als chaotisch zu beschreiben mag einen Teil des erlebten abdecken, aber reicht bei weitem nicht aus, das Hin- und Her, die emotionalen und strukturellen Belastungen von Wiebke und mir und den Kindern zu beschreiben. Letztlich konnten wir nach Zeichen der klinischen Besserung mit einem gewissen Optimismus am 12. Mai nach Afrika fliegen. Am Ende kam alles ganz anders.

Einsam am Plärrer.

Auf dem Rückflug aus Nürnberg nach der Beerdigung meiner Mutter hatte ich bei all der Trauer nur einen Wunsch für meinen Vater: dass er wieder zurück in ein „gutes Leben“ finden, seine Zeit mit Freunden und Hobbies füllen und nicht an der Trauer zerbrechen könne. Meine größte Angst war, dass er sich allein fühlt.

Gottlob, und ich bin so vielen Menschen so unendlich dankbar dafür, dass ich das hier schreiben kann, gottlob war meine größte Sorge unberechtigt: ich glaube und hoffe, dass mein Vater sich in den folgenden Monaten so gut wie nie einsam gefühlt hat. Das liegt an den großartigen Freunden und Nachbarn, die sich alle regelmäßig, herzlich und aufopferungsvoll um ihn gekümmert haben. An seiner Schwägerin, die immer, Tag und Nacht, für ihn da war und seine Launen aushielt. Manchmal, wenn er am Telefon erzählte, was er so alles gemacht hatte, kam in mir das Gefühl auf, dass er das Leben noch einmal völlig neu entdeckt; ein bisschen so wie früher, vor der Familiengründung, vor dem dem Bandscheibenvorfall, losgelöst und frei und offen im Alltag und mit Freunden. Regelmäßiges Schafkopfen, Spaziergänge, Essen gehen mit dem Nachbarn, Studientreffen mit den alten Kollegen aus dem Studium an der TU München, regelmäßig von der Nachbarschaft zum Essen eingeladenm werden. Und wir haben es geschafft, fast jeden Abend mit einander zu telefonieren, eine schöne Routine, die aber auch meine Familie belastet hat, denn gerade jetzt im Rückblick merke ich immer mehr, wie ich mit halben Geist und halber Seele in Nürnberg hing, was das  Ankommen in der völlig anderen Welt Lindi nicht vereinfachte.

Jetzt im Nachgang ist mir auch klar, wie mich mein Vater in diesen Gesprächen schützte: wie er immer positiv von seiner körperlichen Situation sprach und den leider zunehmenden Verfall ausblendete. Als er an einem Abend plötzlich nebenbei erzählte, dass er nun ein Heimsauerstoffgerät verschrieben bekommen hätte, wurde ich nervös. Nur durch Gespräche mit den behandelnden Ärzten fand ich über die massive Zunahme der Lungenmetastasen und leider auch die inzwischen gefundenen Lebermetastasen heraus. Wir buchten einen Flug für Anfang Dezember, um mit der ganzen Familie noch einmal bei ihm zu sein und uns von ihm verabschieden zu können.

Leider hat die Zeit dafür nicht gereicht. Ende November ging es ihm innerhalb weniger Tage immer schlechter und er ließ sich an einem Donnerstag Abend ins Krankenhaus einliefern. Am Freitag kam noch eine optimistische SMS, aber die Informationen des Stationsarztes, ein Studienkollege, den ich nach langer Recherche erreicht hatte, waren deutlich pessimistischer. Also saß ich Samstag um 16 Uhr im Bus nach Daressalam, Wiebke war am morgen des gleichen Tages von ihrem Besuch bei der Standesamtlichen Hochzeit ihres Bruders zurück gekommen. Mit viel Glück erreichte ich nach mehreren Buspannen und einem Totalschaden 2km vor Daressalam mit einem Taxi den Flughafen, zwischen Ankommen und im Flugzeug sitzen lagen nur 24 Minuten. Am nächsten Morgen war ich bei meinem Vater, der mich mit einem Seufzer der Erleichterung erkannte und umarmte. Danach fiel er in einem unruhigem Schlaf, ich konnte ihn in seinem Zimmer noch die nächsten 32 Stunden begleiten, bis er Montag nachmittag friedlich einschlummerte.

Im Krankenhaus

Am Vormittag hatte mich noch eine Psychologin der Krebsstation besucht, die ich zufällig seit vielen Jahren kannte und mit der ich über 1 Stunde ein sehr hilfreiches Gespräch führen konnte. Dennoch war das alles so unglaublich unwirklich, ganz nah, und doch so weit weg. Der letzte, wahrscheinlich essentiellste Teil meiner Wurzeln, meines Kindseins, meiner Persönlichkeitsentwicklung, meiner Sozialisierung, war nun verschwunden. Ein zentraler Ansprechpartner, die letzte Wiese, trotz allen Uneinigkeiten doch als letzte Bastion im Hintergrund, was wie so oft im Leben erst klar wird, wenn sie nicht mehr da ist. Plötzlich bin ich der „Familienälteste“, mangels direkter Verwandtschaft abgesehen von meiner eigenen Familie und meiner lieben Großtante irgendwie allein auf weiter Flur, allein mit Entscheidungen, Erlebnissen. Klar ist die eigene Familie da und ich weiß auch, dass ich auf die Schwiegerfamilie jederzeit voll und ganz zählen kann, aber das ist etwas anderes. Da war seit meiner Kindheit immer jemand da, für Fragen und letzte Entscheidungen, und jetzt ist er weg.

Die folgenden Tage und Wochen verschmelzen in meiner Erinnerung zu einem wirren Konglomerat aus Flughafentransit, Koffer einpacken auspacken umpacken, nach drei Tagen Lindi wieder zurückfliegen, Elternhaus verräumen, bei den Schwiegereltern leben und doch weg sein, Weihnachten erleben wie einen Film im Fernseher im Nachbarraum, immer wieder für ein paar Tage allein im Elternhaus wohnen, in Vergangenheit eingehüllt und erfüllt von meinen Eltern, Maklerlogistik, Umzugsunternehmen, Silvester, und Zack wieder zurück in Lindi. Als wären wir nie weg gewesen und trotzdem ist die Welt eine völlig andere.

Einige Bruchstücke:
das von meinem Vater sechs Tage zuvor noch für die Enkel weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer mit seinen geliebten Orchester-Engeln, die perfekt vorbereiteten Unterlagen zu allem (Rente, Versicherung, Grab, Haus, Versicherungen) als letztes Zeichen seiner aufopferungsvollen Liebe, ein Gefühl, dass mich greifbar in den Tagen nach seinem Tod im Elternhaus erfüllt hat; der verspätete Abflug aus Nürnberg, weil es für 5 startende Maschinen nur 3 Enteisungsmaschinen gibt, ein Hotel zur Übernachtung in Dar wie aus BladeRunner, auf der Veranda sitzen und schwitzen, in Amsterdam durch das Schneetreiben fahren, dabei unwirklich im eigenen und doch fremden VW-Bus sitzend. Elternhaus. Versicherungsabwicklungen. Trauerfeier mit über 50 teils weit gereisten alten Weggefährten aus Schule, Studium, Arbeit, Wanderverein. Ähnlich wie bei meiner Mutter. Sie standen beide im Leben. Das stimmt mich froh und macht mich traurig zugleich. Ständige Ambivalenz. Aber eine Sache ist sicher: ihr fehlt mir beide unendlich. Das war alles viel zu früh.

Mit den Worten von Radiohead:

I jumped in the river, what did I see?
Black-eyed angels swam with me
A moon full of stars and astral cars
And all the figures I used to see

(p)

Früher. Wahrscheinlich am Untreusee in Hof, Saale.

Weil es mit Musik immer besser ist, hier noch eine Anmerkung:

der Titel des Beitrags ist auch gleichzeitig ein Stück von Matthew and the Attic, die wir bei Folk im Park kennenlernen dürften. Video hier , Lyrics hier:

Love, I know, it’s been a long, long year
What we lived in the flicker of the light
I hung those feathers like hair upon your shoulder

Best not untethered our bodies to the ground

Like a flightless bird on a wide-winged hope
Cradled by the dawn
The afterglow, a mothers‘ love
A deer trail in the snow

I keep the static playing on the radio
You move through the room
With a misty halo

Like a flightless bird on a wide-winged hope
Cradled by the dawn
The afterglow, a mothers‘ love
A deer trail in the snow
And we unfold to the edge of it
A crimson sky hangs low
A rush of blood, a … blow
A deer trail in the snow

Like a flightless bird on a wide-winged hope
Cradled by the dawn
The afterglow, a mothers‘ love
A deer trail in the snow
And we unfold to the edge of it
A crimson sky hangs low
A rush of blood, a … blow
A deer trail in the snow


Motorrad-Alltag

I’m gonna hit the highway like a battering ram
On a silver black phantom bike.
Meat Loaf, Bat out of hell*

 

Heute ein kleiner Alltagsbericht: wir wohnen nicht unmittelbar in der Stadt Lindi, sondern in Mitwero, 7km nördlich. Damit ich nicht mit dem Familienauto in die Klinik tuckern muss, haben wir uns bei unserem Aufenthalt für den Sprachkurs in Daressalam ein Motorrad gebraucht gekauft, eine nette Honda ACE 125.

Normalerweise läuft es am Morgen so ab, dass ich vor der Arbeit mit der Honda Ronja zur Schule fahre (Start ist 7:30), die praktischerweise auch in dem Vorort Mitwero gleich um die Ecke ist. Ein Großteil der Strecke geht über eine Dust-Road zwischen Feldern und einzelnen Häusern, bis man bei der Schule ankommt. Zurück auf der Hauptstraße sind es dann ca. 10 wunderbare Minuten auf einer Küstenstraße mit abwechslungsreichen Blicken auf die Bucht von Lindi bis zum Krankenhaus.

Manchmal nehme ich auch noch Kalle mit, dessen Kindergarten in der Nähe des Krankenhauses ist.

Kürzlich hatte ich also beide Kinder dabei; kurz vor Ronjas Schule auf der unebenen Straße fing das Motorrad plötzlich an zu rattern und hatte keinen Zug mehr nach vorne, Motor und Schaltung funktionierten aber problemlos. Wir hielten an und standen mitten im Nichts zwischen hohem Gras und matschiger Straße.

Hier kommt nun die Tatsache ins Spiel, die schon mein Vorgänger Martti immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt hat:

In Tansania ist alles möglich… Man muss nur die richtigen Telefonnummern haben.

Praktischerweise war mit der Honda genau das gleiche Problem schon drei Wochen zuvor an fast genau der gleichen Stelle passiert. Damals hatte ich keine Telefonnummer und habe das Motorrad zur nächsten Tankstelle geschoben – immerhin konnte ich einen Großteil des Weges bergab auf der Maschine rollen. Die Tankstellenleute holten einen befreundeten Fundi PikiPiki (Motorrad-KfZ-Mechaniker), der das Problem auch direkt lösen konnte: die Kette war herausgesprungen, weil sie sehr locker gespannt war. Ich hatte mir natürlich seine Nummer geben lassen.

Nachdem ich also das Motorrad abgestellt und gemeinsam mit Kalle Ronja das letzte Stück zu Fuß in die Schule gebracht hatte, konnte ich ganz entspannt diese Nummer anrufen. 10 Minuten später war der Fundi vor Ort und hatte gleich eine neue Kette mitgebracht. Während der Wartezeit waren ein paar Jungs auf uns aufmerksam geworden, die um die Ecke auf ihren Arbeits-LKW warteten. Es wurde direkt nach dem Problem gefragt („shida nini?“) und Hilfe angeboten („unahitaji kusaidia?“). Später halfen sie dem Fundi beim Anpassen der neuen Kette.

Nach 20 Minuten und Bezahlen von 20.000 Schilling (7,10 EUR) konnten Kalle und ich wieder weiterfahren und ich musste an Marttis Satz denken…

 

(P)

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Bastelstunde bei Sister Clara

Good morning, good morning, good morning everyone!
I am so happy to see you, good morning everyone!
Good morning to the sunshine, good morning to the rain!
Good morning to whatever the day may bring!

Good morning Song (traditional)*

Heute kommt ein kleiner Eindruck von einer Bastelrunde, die ich am letzten Tag vor den Osterferien bei Kalle in der Vorschule gemacht habe. Nach Absprache mit Lehrerin Sister Clara blieb ich am Freitag vor den Ferien den Vormittag über dabei und bastelte mit Ronja´s Unterstützung (ihre Schule hatte bereits am Tag davor die Ferien eingeläutet) Ballons für einen zukünftigen Geburtstagskalender im Klassenraum. Nach einer internationalen Sing- und Tanzrunde („Good morning song“, „Ich hab Hände sogar zwei“, Simama kaa, „A ram sam sam“…) ging es an die Stifte! Es war recht offensichtlich, dass die Kinder bislang wenig bis nichts mit Wachsmal- und Buntstiften zu tun hatten und es machte Spaß zu beobachten, wie sie diese neuen Medien entdeckten und stolz über die Ergebnisse waren. Die kommenden zwei Wochen sind nun also Osterferien. Wir werden die erste Woche in Lindi verbringen (Philipp muss normal arbeiten) und in der zweiten Woche für einige Tage in die Nähe von Dar es Salaam fahren. Euch allen wünschen wir frohe Ostern und außerdem schöne Ferien allen die frei haben!

(w)

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Wenn Deutschland kolonialisiert worden wäre

„Wahrscheinlich würden unsere traditionellen kulturellen Praktiken, wie zum Beispiel junge Mädchen während der Karnevalssaison als Tanzmariechen in knappen, ihre Unterwäsche preisgebenden Kostümen auftreten zu lassen, als barbarisch und frauenverachtend, mindestens aber als lächerlich und rückständig gelten. In einigen Gegenden wären sie gesetzlich verboten.“
(„Wenn Deutschland kolonialisiert worden wäre“, Aram Ziai, 26.07.2017, Frankfurter Rundschau)

Heute ein kurzer Beitrag oder vielmehr Gedankenanstoß zu einem gefühlt riesigen, unglaublich schwer (vielleicht unmöglich) zu umfassenden Thema, das uns hier immer wieder von unterschiedlichen Blickwinkeln aus beschäftigt und das wir regelmäßig untereinander und auch mit anderen AusländerInnen in Lindi diskutieren. Es geht um die Frage nach dem Sinn oder Unsinn von Entwicklungszusammenarbeit, deren Ausgestaltung, Motivation, Ursprung, …. Ich fühle mich nicht im Stande, mich abschließend dazu zu äußern habe aber einen hochinteressanten Artikel von Aram Ziai (Professor der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien) gefunden, den ich gerne mit allen Interessierten teilen möchte.

 

Der Artikel kann hier abgerufen werden: http://www.fr.de/kultur/entwicklungspolitik-wenn-deutschland-kolonialisiert-worden-waere-a-1320125

Auch die komplette Antrittsvorlesung zur Heisenberg-Professur von Aram Ziai ist überaus lesenswert:
http://www.uni-kassel.de/fb05/fileadmin/datas/fb05/FG_Politikwissenschaften/
Entwicklungspolitik/
Antrittsvorlesung_Aram_Ziai.pdf

Ein weiterer Beitrag von Aram Ziai von 2016 findet sich hier: http://www.fr.de/politik/meinung/gastbeitraege/rassismus-der-kolonalismus-in-unseren-koepfen-a-367880

 

Und für alle, die Lust haben auf neue (kartographische) Perspektiven kann ich als große Kartenfreundin folgende Weltkarte empfehlen – inklusive Begleitheft zum Einsatz in der Bildungsarbeit. Die Karte hängt auch bei uns in Lindi im Wohnzimmer und verwirrt regelmäßig BesucherInnen:

Perspektiven wechseln

Zum Weiterlesen und Schauen:

Weltkarte als Plane zum Ausleihen:
www.engagement-global.de

Begleitheft zur Weltkarte:
Link zum PDF

Beitrag von TTT vom 25.03.18 zum Thema Benin-Bronzen als Raubkunst: 
ARD Mediathek

Facebook-Gruppe „Berlin Postkolonial“ mit vielen Beiträgen und Links zum Thema:
Weiter zu FB nach dem Klick

 

(w)

 

 

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Shuleni

I can see you in the morning
when you go to school

Supertramp*

 

Nach neun Monaten in Tansania wage ich mich nun an ein Thema, was uns schon vor unserer Ausreise schwer beschäftigt hat. Ich versuche in diesem Beitrag – wie auch in allen anderen – möglichst wertfrei beschreibend zu bleiben, was besonders bei diesem Beitrag nicht leicht fiel, da er ein für uns elementares und emotionales Thema behandelt. Und natürlich beschreibe ich u.a. vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen, Prägung und kulturell bedingter Wertvorstellungen (Shuleni = in der Schule, zur Schule).

Bereits in Philipps Stellenausschreibung hieß es, dass der Standort Lindi für Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter nur bedingt (bzw. eigentlich gar nicht) zu empfehlen sei und auch von der deutschen Familie, die hier unmittelbar vor uns und ebenfalls mit zwei Kindern in Lindi lebte hatten wir viel zum Thema Schule gehört. Unter anderem war in dieser Vorgänger Familie die Mutter mitsamt den Kindern nach einiger Zeit von Lindi aus nach Daressalam umgezogen, damit die Kinder dort eine internationale Schule besuchen konnten.

Mit den Möglichkeiten für die Schulbildung in Lindi waren sie aus verschiedenen Gründen nicht zufrieden gewesen. Nach viel Kopfzerbrechen und abwägen hatten wir uns schließlich dennoch für den Umzug nach Tansania und i.B. Lindi entschieden und uns vorgenommen, die Schulsituation als Herausforderung zu sehen. Homeschooling (wie in den mittlerweile kennengelernten amerikanischen Missionarsfamilien hier üblich) wollten wir wenn möglich vermeiden, damit die Kinder regelmäßigen und alltäglichen Kontakt zu lokalen Kindern haben.

Mittlerweile kann ich sagen, dass die Schul- bzw. Vorschulsituation für Ronja und Kalle sich absolut positiv entwickelt hat und ich mich in der Lage fühle, einen kleinen Einblick zu geben!

Ronja – Joy School

Ronja besucht seit Juli 2017 die einzige englische und multi-regligiöse Privatschule, die es in Lindi gibt. Das jährliche Schulgeld liegt derzeit bei 900.000 tansanischen Schilling, was in etwa dem vierfachen Monatsgehalt eines ungelernten Arbeiters entspricht. Es gibt anscheinend genügend Familien, die sich dieses Schulgeld leisten können, denn die zur Zeit sechs Klassen der Schule sind allesamt voll. Sie liegt praktischerweise in Mitwero, also dem Vorort, in dem auch wir wohnen, ca. 3 km von unserem Haus entfernt.

Die Besitzerin der Schule, Alice Kituku, ist Kenianerin und hat das Land für diese Schule bereits 2010 in weiser Voraussicht in diesem mittlerweile sehr beliebten Vorort von Lindi erworben. Bis dato führte sie eine kleine Vorschule in ihrem Garten in Lindi Downtown, hatte aber stets den Traum eine richtige Vor- und Grundschule zu eröffnen. Mittlerweile gibt es Klassenräume für sechs Klassen, zwei weitere Klassenräume befinden sich aktuell im Bau und im kommenden Jahr sollen eine Bibliothek sowie ein Computerraum folgen.

Neue Klassenräume in Bau

Der Schulleiter, Mister Said (gebürtig aus Pemba, Tansania und vor einem Jahr für seine Schulleiterstelle nach Lindi gezogen) wohnt mit seiner Familie direkt neben dem Schulgelände. Alice ist eine ambitionierte und hart arbeitende Frau. Zusammen mit Schulleiter Mr. Said überwacht sie jeden Schritt der Bauaktivitäten, und kümmert sich um so gut wie alles persönlich – von der Essensausgabe über die Akquise von Schulbüchern, Schuluniformen, Schulbusse, neue LehrerInnen, und und und…

Wir empfinden es als eine außerordentlich herausragende Leistung, ein so großes Projekt in einer durchaus herausfordernden Umgebung zu stemmen und am Laufen zu halten. Das Interesse und Engagement von Seiten der Eltern erleben wir (im Vergleich zu Erfahrungen in Deutschland) als eher gering. Dies resultiert schon allein aus logistischen Aspekten wie der Tatsache, dass alle Kinder mit Schulbussen zur Schule hin und wieder nach Hause fahren. Somit sind Eltern generell wenig an der Schule selber präsent.

Die Unterschiede zu den staatlichen Schulen sind vielfältig und grundlegend: Die Kinder der Joy School müssen das Schulgebäude und Außengelände nicht selber putzen. Im Gegensatz dazu sehen wir die Kinder der staatlichen Schulen generell mit einem selbstgebauten Besen in der Hand zur Schule laufen (keine Schulbusse!), denn Geld für Reinigungspersonal gibt es nicht. Die Anzahl der LehrerInnen pro SchülerIn ist ebenfalls grundsätzlich verschieden. In den staatlichen Schulen ist es gängig, dass eine Lehrkraft für drei verschiedene Klassen zuständig ist und somit grundsätzlich bis zu 60 Kinder sich selbst überlassen sind. Die Schulgebäude selber könnten ebenfalls nicht unterschiedlicher sein. Das Schulgebäude der Joy School ist sehr neu und gut intakt. Alle Fenster sind mit Gittern versehen und es gibt ein dichtes Dach über allen Räumen sowie Toiletten getrennt nach Mädchen, Jungen und Personal (all dies ist in staatlichen Schulen durchaus nicht gewährleistet…).

Die Wände der Joy School sind verputzt und gestrichen, außen mit bunten und lehrreichen Bildern aus den verschiedenen Fächern kunstvoll gemalt. Es gibt zahlreiche englische Kinderbücher (Spenden aus UK), außerdem um 10:00 eine Teepause (Tee und Brötchen für jedes Kind) sowie Mittagessen um 13:00. In den staatlichen Schulen ist es üblich, dass die Kinder um die Mittagszeit rum nach Hause laufen, dort essen und nach dem Essen wieder zur Schule laufen. Für die Sporttage (Mittwochs und Freitags) sowie Pausen gibt es gespendetes Sportmaterial wie Bälle, Springseile, ein Volleyballnetz, Fußballtore und sogar ein Schwungtuch.

Der Unterricht selber findet generell auf Englisch statt. Ab der dritten Klasse gibt es dann ein Schulfach Kiswahili. Die staatlichen Grundschulen funktionieren grundsätzlich auf Suaheli. Problematisch ist dies, da in der weiterführenden Schule (Secondary School) dann komplett auf Englisch unterrichtet und gelernt werden soll. Für die SchülerInnen der staatlichen Grundschulen ein kaum zu bewältigender Wechsel. Problematisch für viele Familien ist – neben der Sprache – die notwendige Grundausstattung der Kinder mit Schuluniformen und Heften sowie Schreibmaterial. All dies wird nicht von den Schulen gestellt, ist aber Voraussetzung für den Schulbesuch, der wiederum durch die Schulpflicht bestimmt wird. Unser Gärtner Hamisi erzählte mir kürzlich eindrücklich von dem Dilemma vieler Familien: Wenn sie ihre Kinder in die Schule schicken, jedoch kein Geld für die Uniform oder Schulhefte haben, werden die Kinder wieder nach Hause geschickt. Wo dann wiederum die Polizei auftaucht, da die Kinder laut Schulpflicht zur Schule gehen müssen…

 

Graduation

Die Graduation (= Jahresabschlussfeier) fand am 2. Dezember statt und wurde den kompletten November über von LehrerInnen und SchülerInnen aller Klassen vorbereitet. Es wurden Tänze einstudiert und Lieder geprobt, Schuluniformen gewaschen und neue weiße Socken gekauft. Am Tag selber kamen an die 300 Eltern zur Schule und saßen im Schatten der aufgebauten Festzelte, um ihren Kindern bei den Darbietungen zuzuschauen. Leider wurde mit Rücken zur Elternschaft getanzt, so dass die Ehrengäste die Kinder von vorne anschauen konnten. Generell ähnelte die Feier einer Einschulung in Deutschland – besonders geehrt wurden Kinder der Pre-Unit inklusive Ronja, die ab Januar die erste Klasse besuchen.

Corporal Punishment

Ein für uns ganz grundlegendes Problem und fortwährendes Gesprächsthema: Körperliche Bestrafung, „corporal punishment“ (im Folgenden „cp“). Tansania gehört zu den Ländern, in denen körperliche Bestrafung durch Schläge mit einem Stock tatsächlich noch erlaubt ist. Die zugrundeliegende nationale Gesetzgebung kann bei Interesse hier nachgelesen werden.

Dass cp in Tanzania durchaus noch praktiziert wird hatten wir im Vorfeld gehört und natürlich versucht, so viel wie möglich darüber heraus zu bekommen. Eine unserer Informationen war, dass – entgegen der landesweiten Handhabung – die Joy School nach dreijährigem Engagement von Alice und Schulleiter Said in Zusammenarbeit mit einem für VSO tätigen pensionierten britischen Lehrer seit März 2017 neue Verträge mit ihren LehrerInnen macht, die cp explizit ausschließen. Nun berichtete Ronja aber bereits an ihrem ersten Schultag von gegenteiligen Erfahrungen und auch ich selbst sah beim Abholen Kinder, die von einem Lehrer mit einem Stock geschlagen wurden.

Es folgten von unserer Seite fundamentale Zweifel an unserem Aufenthalt hier und sehr emotionale Gespräche mit Schulleiter Said und Alice sowie Telefonate mit den britischen Förderern, die ihrerseits entsetzt waren über die offensichtliche Entwicklung. Waren sie doch erst im März 2017 nach drei Jahren intensiver Zusammenarbeit aus Lindi wieder nach London gezogen. Sie unterstützten die Schule nur unter der Voraussetzung, dass cp hier nicht mehr an der Tagesordnung sei. Es folgte ein verwarnender Brief an Ronja´s Lehrerin, der jedoch keinen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Ronja selber war selbstverständlich niemals betroffen – wir hatten von Anfang an sehr klar gemacht, dass cp für unsere Kinder unter keinen Umständen in Frage kommt und diese Botschaft ist angekommen. Trotzdem erlebte Ronja den Umgang mit ihren MitschülerInnen natürlich tagtäglich und wir sprachen viel über dieses Thema.

Trotz allem mochte sie die Lehrerin, Madam Sesi, sehr gerne und fühlte sich bei ihr in der Pre-Unit wohl. Seit Januar geht sie nun in „Grade 1“ und ihre Lehrerin ist Madam Marcha. Bislang ist cp kein Thema mehr gewesen und Ronja hat uns mehrfach erzählt, dass Madam Marcha bisher noch kein Kind geschlagen habe – wir kennen die Lehrerin aus dem erweiterten Freundeskreis und sind sehr froh über diese Entwicklung für Ronja und ihre MitschülerInnen und hoffen, dass wir durch unsere Präsenz an der Schule und regelmäßige Gespräche mit Schulleitung und Lehrerschaft immer wieder kleine Gedanken und Ideen streuen können.

 

Wir haben in den letzten Monaten immer wieder intensiv über das tansanische Grundschulsystem wie wir es erleben nachgedacht und gesprochen (und man muss sich immer wieder klarmachen, dass wir unsere Erfahrungen am allerobersten Ende der Fahnenstange machen – staatliche Schulen sind nochmal eine völlig andere Hausordnung). Sowohl Untereinander als auch mit tansanischen FreundInnen, anderen Expats und tansanischen LehrerInnen. Es gibt vielfältige Themen, die relevant sein können, wenn man sich fragt warum cp heute noch tagtäglich eingesetzt wird und wir versuchen, den größeren Kontext zu verstehen. Schulleiter Said sagte zu mir: „Von einem tansanischen Lehrer in Lindi zu verlangen, ohne cp zu unterrichten ist in etwa so, als würde man von einem deutschen Lehrer verlangen, die Kinder ab sofort mit Schlägen zu bestrafen.“ Er selber möchte cp an seiner Schule baldmöglichst komplett abschaffen, sagt aber es brauche Zeit und eine (deutlich bessere) Ausbildung der Lehrer.

Das „Teachers’ College“ dauert anderthalb Jahre, man kann jedoch auch ganz ohne Ausbildung LehrerIn werden. Für GrundschullehrerInnen reicht die erfolgreich abgeschlossene Weiterführende Schule. Entsprechend kurz ist die (wenn überhaupt stattfindende) didaktische und pädagogische Ausbildung der Lehrkräfte; der Stock ist tatsächlich fester Bestandteil dieser Ausbildung. Auch Erfahrungen in der eigenen Schullaufbahn und nicht zuletzt der tägliche Umgang mit Kindern zu Hause in den Familien spielen sicherlich eine Rolle.

Letztendlich ist cp unserer Meinung nach Bestandteil eines von uns beobachteten generellen Umgangs mit Kindern im Bildungssystem, in dem die Kinder selten als kreative, wertvolle, selbstbestimmte und förderungswürdige Personen gesehen werden. Positive Motivation, Kreativität, Eigenverantwortlichkeit, Lernen durch Ausprobieren und Neugierde ist von Seiten der Lehrerschaft nicht vorgesehen und somit nicht Teil des alltäglichen Lernprozesses. Gelernt wird vielmehr durch Wiederholung und Auswendiglernen. Ein Taxifahrer in Daressalam sagte einmal zu uns, er könne sich glücklich schätzen, nie in Tansania zur Schule gegangen zu sein, denn dort lerne man seiner Meinung nach lediglich ein guter Angestellter zu werden.

Die Joy School in Lindi ist mit Sicherheit mit Abstand das Beste, was Kinder in Lindi an Grundschulbildung erfahren können und Alice mit gutem Herzen und voller Energie und Engagement auf einem anstrengenden und vielleicht noch weiten Weg. Wir sind gespannt, welche Entwicklungen wir in der nächsten Zeit dort noch beobachten können.

Zum Thema hier (PDF) ein lesenswerter Leitfaden einer NGO mit Sitz in Uganda, die gegen Corporal Punishment in afrikanischen Ländern aktiv ist.

 

Kalle – Sr. Clara

Kalle besuchte zunächst die „Nursery-Class“ der Joy School, wo es aber sowohl ihm als auch uns nicht gut gefiel. Zu verschult war uns der Alltag der 2-5 jährigen Kinder, ohne Zeit zum spielen, sich bewegen etc. mit zwei Lehrerinnen, deren Interesse an den Kindern in unseren Augen sehr gering ausfiel. Aus unserer Sicht problematisch war außerdem der Ort der Kindergartengruppe inmitten des normalen Grundschulbetriebes. Kalle sowie alle anderen doch noch sehr jungen Kinder fanden sich somit täglich zwischen 200 Kindern wieder von denen die ältesten 13 Jahre alt sind (die Grundschule in Tansania geht bis einschließlich siebte Klasse). Kalle wusste sich bei dem konstanten Andrang der tansanischen Kinder aus Interesse an seiner Andersartigkeit nicht zu helfen und fand es einfach unangenehm, ständig umringt zu sein. Die Lehrerinnen zeigten wenig Verständnis für seine Situation oder waren nicht in der Lage, die übrigen Kinder in ihrem Verhalten zu beeinflussen.

Seit dem neuen Jahr geht er nun zur St. Andrea Kaggwa Nursery School der Katholischen Gemeinde in Lindi. Auf diese Einrichtung wurden wir dank einer Arbeitskollegin von Philipp aufmerksam und sind sehr glücklich, sie gefunden zu haben! Dort ist Sister Clara zuständig, gemeinsam mit ihr arbeiten noch drei weitere Lehrerinnen in der Nursery School. Es gibt zwei Gruppen: die jüngeren Kindern (3-4 J.) und die älteren Kindern (5-6 J.). Kalle geht zur älteren Gruppe mit insgesamt rund 20 Kindern.

Der Kindergarten befindet sich am wohl schönsten Ort den man sich (neben dem Erlanger Meilwald) für einen Kindergarten vorstellen kann: mit Blick auf den indischen Ozean, ein bisschen oberhalb von Lindi inmitten von Kokos-Palmen und mit konstant angenehmem Wind vom Meer! Die Location an sich ist für Kalle relativ egal – viel wichtiger für ihn waren neben Schwester Clara, die ihn überaus herzlich empfangen hat, vom ersten Tag an die zwei Schaukeln, eine Wippe und eine Rutsche die auf dem Außengelände stehen und benutzt werden dürfen – eine absolute Besonderheit in Lindi! Schwester Clara ist den Kindern sehr zugewandt und freundlich, singt und spielt viel mit ihnen und rennt Freitags (Sporttag) auch mal mit Trillerpfeife im Mund vor ihnen her. Kalle geht absolut gerne hin!

Nach Kalle´s Wechsel schlug uns von vielen Seiten Unverständnis entgegen – die katholische Nursery School sei doch eine kiswahilisprachige Einrichtung und die Kinder würden dort außerdem nicht viel lernen sondern eigentlich nur spielen. In solchen Fällen erklären wir, dass wir uns genau das für unser fünfjähriges Kind wünschen. Es ruft immer wieder Erstaunen hervor, dass in dieser Altersgruppe in Deutschland noch nicht von Schule die Rede ist, geschweige denn Zahlen oder Buchstaben gelernt werden und die Kinder im deutschen Kindergarten bis zu ihrem sechsten Lebensjahr „nur“ spielen. Kalle und ich freuen uns auf alle Fälle jeden Tag aufs Neue auf das „nur spielen“ und Sister Clara sowie die Kinder.

(w)

 

Zum Weiterlesen:

Facebook-Seite der Joy School: https://web.facebook.com/FriendsOfJoySchool/

Lesenswerter Blog des pensionierten Lehrerehepaars aus UK:
https://tanzaniascorers.wordpress.com/2015/12/01/joy-school/

Nationale Gesetzgebung zu CP: 
http://www.endcorporalpunishment.org/progress/country-reports/united-republic-of-tanzania.html

„Raising Voices“, Leitfaden für Schulen die gegen Corporal Punishment aktiv werden möchten (PDF):
http://raisingvoices.org/wp-content/uploads/2013/03/downloads/resources/goodschool_learn_positivediscipline.pdf

Tansanische Presse zum Thema CP:
http://allafrica.com/stories/201611070119.html

 

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