I can see you in the morning
when you go to school

Supertramp*

 

Nach neun Monaten in Tansania wage ich mich nun an ein Thema, was uns schon vor unserer Ausreise schwer beschäftigt hat. Ich versuche in diesem Beitrag – wie auch in allen anderen – möglichst wertfrei beschreibend zu bleiben, was besonders bei diesem Beitrag nicht leicht fiel, da er ein für uns elementares und emotionales Thema behandelt. Und natürlich beschreibe ich u.a. vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen, Prägung und kulturell bedingter Wertvorstellungen (Shuleni = in der Schule, zur Schule).

Bereits in Philipps Stellenausschreibung hieß es, dass der Standort Lindi für Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter nur bedingt (bzw. eigentlich gar nicht) zu empfehlen sei und auch von der deutschen Familie, die hier unmittelbar vor uns und ebenfalls mit zwei Kindern in Lindi lebte hatten wir viel zum Thema Schule gehört. Unter anderem war in dieser Vorgänger Familie die Mutter mitsamt den Kindern nach einiger Zeit von Lindi aus nach Daressalam umgezogen, damit die Kinder dort eine internationale Schule besuchen konnten.

Mit den Möglichkeiten für die Schulbildung in Lindi waren sie aus verschiedenen Gründen nicht zufrieden gewesen. Nach viel Kopfzerbrechen und abwägen hatten wir uns schließlich dennoch für den Umzug nach Tansania und i.B. Lindi entschieden und uns vorgenommen, die Schulsituation als Herausforderung zu sehen. Homeschooling (wie in den mittlerweile kennengelernten amerikanischen Missionarsfamilien hier üblich) wollten wir wenn möglich vermeiden, damit die Kinder regelmäßigen und alltäglichen Kontakt zu lokalen Kindern haben.

Mittlerweile kann ich sagen, dass die Schul- bzw. Vorschulsituation für Ronja und Kalle sich absolut positiv entwickelt hat und ich mich in der Lage fühle, einen kleinen Einblick zu geben!

Ronja – Joy School

Ronja besucht seit Juli 2017 die einzige englische und multi-regligiöse Privatschule, die es in Lindi gibt. Das jährliche Schulgeld liegt derzeit bei 900.000 tansanischen Schilling, was in etwa dem vierfachen Monatsgehalt eines ungelernten Arbeiters entspricht. Es gibt anscheinend genügend Familien, die sich dieses Schulgeld leisten können, denn die zur Zeit sechs Klassen der Schule sind allesamt voll. Sie liegt praktischerweise in Mitwero, also dem Vorort, in dem auch wir wohnen, ca. 3 km von unserem Haus entfernt.

Die Besitzerin der Schule, Alice Kituku, ist Kenianerin und hat das Land für diese Schule bereits 2010 in weiser Voraussicht in diesem mittlerweile sehr beliebten Vorort von Lindi erworben. Bis dato führte sie eine kleine Vorschule in ihrem Garten in Lindi Downtown, hatte aber stets den Traum eine richtige Vor- und Grundschule zu eröffnen. Mittlerweile gibt es Klassenräume für sechs Klassen, zwei weitere Klassenräume befinden sich aktuell im Bau und im kommenden Jahr sollen eine Bibliothek sowie ein Computerraum folgen.

Neue Klassenräume in Bau

Der Schulleiter, Mister Said (gebürtig aus Pemba, Tansania und vor einem Jahr für seine Schulleiterstelle nach Lindi gezogen) wohnt mit seiner Familie direkt neben dem Schulgelände. Alice ist eine ambitionierte und hart arbeitende Frau. Zusammen mit Schulleiter Mr. Said überwacht sie jeden Schritt der Bauaktivitäten, und kümmert sich um so gut wie alles persönlich – von der Essensausgabe über die Akquise von Schulbüchern, Schuluniformen, Schulbusse, neue LehrerInnen, und und und…

Wir empfinden es als eine außerordentlich herausragende Leistung, ein so großes Projekt in einer durchaus herausfordernden Umgebung zu stemmen und am Laufen zu halten. Das Interesse und Engagement von Seiten der Eltern erleben wir (im Vergleich zu Erfahrungen in Deutschland) als eher gering. Dies resultiert schon allein aus logistischen Aspekten wie der Tatsache, dass alle Kinder mit Schulbussen zur Schule hin und wieder nach Hause fahren. Somit sind Eltern generell wenig an der Schule selber präsent.

Die Unterschiede zu den staatlichen Schulen sind vielfältig und grundlegend: Die Kinder der Joy School müssen das Schulgebäude und Außengelände nicht selber putzen. Im Gegensatz dazu sehen wir die Kinder der staatlichen Schulen generell mit einem selbstgebauten Besen in der Hand zur Schule laufen (keine Schulbusse!), denn Geld für Reinigungspersonal gibt es nicht. Die Anzahl der LehrerInnen pro SchülerIn ist ebenfalls grundsätzlich verschieden. In den staatlichen Schulen ist es gängig, dass eine Lehrkraft für drei verschiedene Klassen zuständig ist und somit grundsätzlich bis zu 60 Kinder sich selbst überlassen sind. Die Schulgebäude selber könnten ebenfalls nicht unterschiedlicher sein. Das Schulgebäude der Joy School ist sehr neu und gut intakt. Alle Fenster sind mit Gittern versehen und es gibt ein dichtes Dach über allen Räumen sowie Toiletten getrennt nach Mädchen, Jungen und Personal (all dies ist in staatlichen Schulen durchaus nicht gewährleistet…).

Die Wände der Joy School sind verputzt und gestrichen, außen mit bunten und lehrreichen Bildern aus den verschiedenen Fächern kunstvoll gemalt. Es gibt zahlreiche englische Kinderbücher (Spenden aus UK), außerdem um 10:00 eine Teepause (Tee und Brötchen für jedes Kind) sowie Mittagessen um 13:00. In den staatlichen Schulen ist es üblich, dass die Kinder um die Mittagszeit rum nach Hause laufen, dort essen und nach dem Essen wieder zur Schule laufen. Für die Sporttage (Mittwochs und Freitags) sowie Pausen gibt es gespendetes Sportmaterial wie Bälle, Springseile, ein Volleyballnetz, Fußballtore und sogar ein Schwungtuch.

Der Unterricht selber findet generell auf Englisch statt. Ab der dritten Klasse gibt es dann ein Schulfach Kiswahili. Die staatlichen Grundschulen funktionieren grundsätzlich auf Suaheli. Problematisch ist dies, da in der weiterführenden Schule (Secondary School) dann komplett auf Englisch unterrichtet und gelernt werden soll. Für die SchülerInnen der staatlichen Grundschulen ein kaum zu bewältigender Wechsel. Problematisch für viele Familien ist – neben der Sprache – die notwendige Grundausstattung der Kinder mit Schuluniformen und Heften sowie Schreibmaterial. All dies wird nicht von den Schulen gestellt, ist aber Voraussetzung für den Schulbesuch, der wiederum durch die Schulpflicht bestimmt wird. Unser Gärtner Hamisi erzählte mir kürzlich eindrücklich von dem Dilemma vieler Familien: Wenn sie ihre Kinder in die Schule schicken, jedoch kein Geld für die Uniform oder Schulhefte haben, werden die Kinder wieder nach Hause geschickt. Wo dann wiederum die Polizei auftaucht, da die Kinder laut Schulpflicht zur Schule gehen müssen…

 

Graduation

Die Graduation (= Jahresabschlussfeier) fand am 2. Dezember statt und wurde den kompletten November über von LehrerInnen und SchülerInnen aller Klassen vorbereitet. Es wurden Tänze einstudiert und Lieder geprobt, Schuluniformen gewaschen und neue weiße Socken gekauft. Am Tag selber kamen an die 300 Eltern zur Schule und saßen im Schatten der aufgebauten Festzelte, um ihren Kindern bei den Darbietungen zuzuschauen. Leider wurde mit Rücken zur Elternschaft getanzt, so dass die Ehrengäste die Kinder von vorne anschauen konnten. Generell ähnelte die Feier einer Einschulung in Deutschland – besonders geehrt wurden Kinder der Pre-Unit inklusive Ronja, die ab Januar die erste Klasse besuchen.

Corporal Punishment

Ein für uns ganz grundlegendes Problem und fortwährendes Gesprächsthema: Körperliche Bestrafung, „corporal punishment“ (im Folgenden „cp“). Tansania gehört zu den Ländern, in denen körperliche Bestrafung durch Schläge mit einem Stock tatsächlich noch erlaubt ist. Die zugrundeliegende nationale Gesetzgebung kann bei Interesse hier nachgelesen werden.

Dass cp in Tanzania durchaus noch praktiziert wird hatten wir im Vorfeld gehört und natürlich versucht, so viel wie möglich darüber heraus zu bekommen. Eine unserer Informationen war, dass – entgegen der landesweiten Handhabung – die Joy School nach dreijährigem Engagement von Alice und Schulleiter Said in Zusammenarbeit mit einem für VSO tätigen pensionierten britischen Lehrer seit März 2017 neue Verträge mit ihren LehrerInnen macht, die cp explizit ausschließen. Nun berichtete Ronja aber bereits an ihrem ersten Schultag von gegenteiligen Erfahrungen und auch ich selbst sah beim Abholen Kinder, die von einem Lehrer mit einem Stock geschlagen wurden.

Es folgten von unserer Seite fundamentale Zweifel an unserem Aufenthalt hier und sehr emotionale Gespräche mit Schulleiter Said und Alice sowie Telefonate mit den britischen Förderern, die ihrerseits entsetzt waren über die offensichtliche Entwicklung. Waren sie doch erst im März 2017 nach drei Jahren intensiver Zusammenarbeit aus Lindi wieder nach London gezogen. Sie unterstützten die Schule nur unter der Voraussetzung, dass cp hier nicht mehr an der Tagesordnung sei. Es folgte ein verwarnender Brief an Ronja´s Lehrerin, der jedoch keinen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Ronja selber war selbstverständlich niemals betroffen – wir hatten von Anfang an sehr klar gemacht, dass cp für unsere Kinder unter keinen Umständen in Frage kommt und diese Botschaft ist angekommen. Trotzdem erlebte Ronja den Umgang mit ihren MitschülerInnen natürlich tagtäglich und wir sprachen viel über dieses Thema.

Trotz allem mochte sie die Lehrerin, Madam Sesi, sehr gerne und fühlte sich bei ihr in der Pre-Unit wohl. Seit Januar geht sie nun in „Grade 1“ und ihre Lehrerin ist Madam Marcha. Bislang ist cp kein Thema mehr gewesen und Ronja hat uns mehrfach erzählt, dass Madam Marcha bisher noch kein Kind geschlagen habe – wir kennen die Lehrerin aus dem erweiterten Freundeskreis und sind sehr froh über diese Entwicklung für Ronja und ihre MitschülerInnen und hoffen, dass wir durch unsere Präsenz an der Schule und regelmäßige Gespräche mit Schulleitung und Lehrerschaft immer wieder kleine Gedanken und Ideen streuen können.

 

Wir haben in den letzten Monaten immer wieder intensiv über das tansanische Grundschulsystem wie wir es erleben nachgedacht und gesprochen (und man muss sich immer wieder klarmachen, dass wir unsere Erfahrungen am allerobersten Ende der Fahnenstange machen – staatliche Schulen sind nochmal eine völlig andere Hausordnung). Sowohl Untereinander als auch mit tansanischen FreundInnen, anderen Expats und tansanischen LehrerInnen. Es gibt vielfältige Themen, die relevant sein können, wenn man sich fragt warum cp heute noch tagtäglich eingesetzt wird und wir versuchen, den größeren Kontext zu verstehen. Schulleiter Said sagte zu mir: „Von einem tansanischen Lehrer in Lindi zu verlangen, ohne cp zu unterrichten ist in etwa so, als würde man von einem deutschen Lehrer verlangen, die Kinder ab sofort mit Schlägen zu bestrafen.“ Er selber möchte cp an seiner Schule baldmöglichst komplett abschaffen, sagt aber es brauche Zeit und eine (deutlich bessere) Ausbildung der Lehrer.

Das „Teachers’ College“ dauert anderthalb Jahre, man kann jedoch auch ganz ohne Ausbildung LehrerIn werden. Für GrundschullehrerInnen reicht die erfolgreich abgeschlossene Weiterführende Schule. Entsprechend kurz ist die (wenn überhaupt stattfindende) didaktische und pädagogische Ausbildung der Lehrkräfte; der Stock ist tatsächlich fester Bestandteil dieser Ausbildung. Auch Erfahrungen in der eigenen Schullaufbahn und nicht zuletzt der tägliche Umgang mit Kindern zu Hause in den Familien spielen sicherlich eine Rolle.

Letztendlich ist cp unserer Meinung nach Bestandteil eines von uns beobachteten generellen Umgangs mit Kindern im Bildungssystem, in dem die Kinder selten als kreative, wertvolle, selbstbestimmte und förderungswürdige Personen gesehen werden. Positive Motivation, Kreativität, Eigenverantwortlichkeit, Lernen durch Ausprobieren und Neugierde ist von Seiten der Lehrerschaft nicht vorgesehen und somit nicht Teil des alltäglichen Lernprozesses. Gelernt wird vielmehr durch Wiederholung und Auswendiglernen. Ein Taxifahrer in Daressalam sagte einmal zu uns, er könne sich glücklich schätzen, nie in Tansania zur Schule gegangen zu sein, denn dort lerne man seiner Meinung nach lediglich ein guter Angestellter zu werden.

Die Joy School in Lindi ist mit Sicherheit mit Abstand das Beste, was Kinder in Lindi an Grundschulbildung erfahren können und Alice mit gutem Herzen und voller Energie und Engagement auf einem anstrengenden und vielleicht noch weiten Weg. Wir sind gespannt, welche Entwicklungen wir in der nächsten Zeit dort noch beobachten können.

Zum Thema hier (PDF) ein lesenswerter Leitfaden einer NGO mit Sitz in Uganda, die gegen Corporal Punishment in afrikanischen Ländern aktiv ist.

 

Kalle – Sr. Clara

Kalle besuchte zunächst die „Nursery-Class“ der Joy School, wo es aber sowohl ihm als auch uns nicht gut gefiel. Zu verschult war uns der Alltag der 2-5 jährigen Kinder, ohne Zeit zum spielen, sich bewegen etc. mit zwei Lehrerinnen, deren Interesse an den Kindern in unseren Augen sehr gering ausfiel. Aus unserer Sicht problematisch war außerdem der Ort der Kindergartengruppe inmitten des normalen Grundschulbetriebes. Kalle sowie alle anderen doch noch sehr jungen Kinder fanden sich somit täglich zwischen 200 Kindern wieder von denen die ältesten 13 Jahre alt sind (die Grundschule in Tansania geht bis einschließlich siebte Klasse). Kalle wusste sich bei dem konstanten Andrang der tansanischen Kinder aus Interesse an seiner Andersartigkeit nicht zu helfen und fand es einfach unangenehm, ständig umringt zu sein. Die Lehrerinnen zeigten wenig Verständnis für seine Situation oder waren nicht in der Lage, die übrigen Kinder in ihrem Verhalten zu beeinflussen.

Seit dem neuen Jahr geht er nun zur St. Andrea Kaggwa Nursery School der Katholischen Gemeinde in Lindi. Auf diese Einrichtung wurden wir dank einer Arbeitskollegin von Philipp aufmerksam und sind sehr glücklich, sie gefunden zu haben! Dort ist Sister Clara zuständig, gemeinsam mit ihr arbeiten noch drei weitere Lehrerinnen in der Nursery School. Es gibt zwei Gruppen: die jüngeren Kindern (3-4 J.) und die älteren Kindern (5-6 J.). Kalle geht zur älteren Gruppe mit insgesamt rund 20 Kindern.

Der Kindergarten befindet sich am wohl schönsten Ort den man sich (neben dem Erlanger Meilwald) für einen Kindergarten vorstellen kann: mit Blick auf den indischen Ozean, ein bisschen oberhalb von Lindi inmitten von Kokos-Palmen und mit konstant angenehmem Wind vom Meer! Die Location an sich ist für Kalle relativ egal – viel wichtiger für ihn waren neben Schwester Clara, die ihn überaus herzlich empfangen hat, vom ersten Tag an die zwei Schaukeln, eine Wippe und eine Rutsche die auf dem Außengelände stehen und benutzt werden dürfen – eine absolute Besonderheit in Lindi! Schwester Clara ist den Kindern sehr zugewandt und freundlich, singt und spielt viel mit ihnen und rennt Freitags (Sporttag) auch mal mit Trillerpfeife im Mund vor ihnen her. Kalle geht absolut gerne hin!

Nach Kalle´s Wechsel schlug uns von vielen Seiten Unverständnis entgegen – die katholische Nursery School sei doch eine kiswahilisprachige Einrichtung und die Kinder würden dort außerdem nicht viel lernen sondern eigentlich nur spielen. In solchen Fällen erklären wir, dass wir uns genau das für unser fünfjähriges Kind wünschen. Es ruft immer wieder Erstaunen hervor, dass in dieser Altersgruppe in Deutschland noch nicht von Schule die Rede ist, geschweige denn Zahlen oder Buchstaben gelernt werden und die Kinder im deutschen Kindergarten bis zu ihrem sechsten Lebensjahr „nur“ spielen. Kalle und ich freuen uns auf alle Fälle jeden Tag aufs Neue auf das „nur spielen“ und Sister Clara sowie die Kinder.

(w)

 

Zum Weiterlesen:

Facebook-Seite der Joy School: https://web.facebook.com/FriendsOfJoySchool/

Lesenswerter Blog des pensionierten Lehrerehepaars aus UK:
https://tanzaniascorers.wordpress.com/2015/12/01/joy-school/

Nationale Gesetzgebung zu CP: 
http://www.endcorporalpunishment.org/progress/country-reports/united-republic-of-tanzania.html

„Raising Voices“, Leitfaden für Schulen die gegen Corporal Punishment aktiv werden möchten (PDF):
http://raisingvoices.org/wp-content/uploads/2013/03/downloads/resources/goodschool_learn_positivediscipline.pdf

Tansanische Presse zum Thema CP:
http://allafrica.com/stories/201611070119.html

 

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