I jumped in the river, what did I see?
Black-eyed angels swam with me
A moon full of stars and astral cars
And all the figures I used to see

Radiohead – Pyramid Song*

 

(dieser Text wurde am 22. April in Transithallen, Wartezonen und Flugzeugen auf dem Weg von Lindi nach Entebbe verfasst).

Heute ist es auf den Tag genau ein Jahr her, dass wir Mats Taufe und unser wunderbares Abschiedsfest auf der Jugendfarm gefeiert haben. Mit dem Abschiedsfest jährt sich auch zum ersten Mal der nächtliche Treppensturz meiner Mutter, auf Grund dessen wir unseren Abflug verschoben und der letztendlich zwei Monate später zum Tod meiner Mutter geführt hat. Je näher dieses Datum rückte, desto unruhiger wurde ich innerlich, obwohl ich eigentlich durch eine aktuell sehr hohe Arbeitsbelastung kaum Zeit für freie Gedanken hatte. Während ich diese Zeilen schreibe, ziehen unter mir die Wolken über den glänzenden Wellen des indischen Ozeans vorüber; ich fliege von Mtwara nach Daressalam, und von dort aus über Nairobi weiter nach Entebbe in Uganda, um dort an einer WHO-Tagung teilzunehmen. Ich weiß noch nicht, ob es gut ist, an solchen Jahrestagen selbst durch das Reisen abgelenkt zu werden oder lieber in Ruhe irgendwo mit meiner Familie zu sitzen und über das letzte Jahr zu sprechen? Aber das werden wir nachholen, wenn ich zurück bin.

Es ist unglaublich wie schnell die Zeit vergeht. In einigen Tagen wird es auch schon wieder fünf (!) Monate her sein, dass ich den bisher schwersten Gang meines Lebens antreten musste, aber es beschäftigt mich immer noch fast täglich.

Als wir uns Ende Oktober 2016 für ein auf zwei Jahre ausgelegtes Leben als Familie in Tanzania entschieden haben, wusste ich gerade mal 2 Wochen von den neu diagnostizierten Lungenmetastasen meines Vaters. Der Krebs (Urothel-CA, ED 2006) selbst war schon Alltag geworden in meiner Familie, wie es nun einmal ist in der Generation meiner Eltern; geboren in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs und aufgewachsen in einem sich zwischen Altnazis und Revoluzzern, Wirtschaftswunder und Mauerbau, Nierentisch und Lavalampe neu erfindenden Deutschland der 50er und 60er Jahre. Über eigene Gefühle und Sorgen wurde in meiner Familie nicht gesprochen. Der Krebs gehörte dazu, man kümmerte und arrangierte sich.

Mein Vater hatte schon einige größere und kleinere Eingriffe hinter sich gebracht, die teilweise zu deutlichen Einschränkungen des Alltages geführt hatten (Stichwort Neoblase), von ihm aber mit Stoizismus und Eigenwillen getragen wurden. Zuletzt hatte er 2016 durch eine lange nicht bemerkte Stauung am Blaseneingang beinahe seine verbleibende Niere verloren und wochenlang mit der Angst um ein erneutes Rezidiv als mögliche Ursache leben müssen. Aber er hatte schon immer einen bewundernswerten Optimismus und bislang jeden Rückschlag abgestritten mit den Worten „das wird schon“. Meine Mutter war ganz in Ihrer Rolle als medizinische Assistentin aufgegangen, die immer alle Termine auf dem Schirm und alle Medikamente parat hatte.

Nun also Lungenmetastasen. Oktober 2016.
Wiebke und ich hatten über das Thema lange gemeinsam gesprochen und ich erinnere mich noch sehr gut an den bewölkten Herbsttag, an dem ich mit meinem Vater durch den braun-rot gefärbten Schlossgarten spazierte und versuchte, mit ihm über die anstehenden 2 Jahre zu sprechen. Ich hatte in den letzten Jahren Immer unter der „Doppelrolle“ Sohn und Mediziner gelitten, aber dieser Moment war unglaublich schwer. Was sollte ich denn auf die Frage antworten, ob ich glaube, dass mein Vater die nächsten 2 Jahre überleben wird oder nicht? Ich habe seinen unverändert bestehenden Optimismus umkommentiert stehen gelassen und war von tiefem Herzen dankbar für seine Eindeutigkeit, in der er mir sagte, wir sollen dieses Projekt bloß machen, er wisse doch, wie lange ich mir schon wünschte, als Arzt im Ausland arbeiten zu können, und er werde das alles schon schaffen. Und uns besuchen. Und ich glaubte auch daran.

Während wir uns in unsere Vorbereitungen für dieses Riesen-Familienprojekt stürzten, sahen wir zu, wie mein Vater von Chemotherapie zu Chemotherapie ging, und dabei trotz allem immer der „Fels in der Brandung“ blieb, als den ich ihn in so vielen Dingen erlebt hatte, mit einer beneidenswerten inneren Ruhe und Optimismus (diese Formulierung habe ich auch mit der Pfarrerin in der Trauerrede verwendet). Natürlich merkten wir auch, wie die ganzen Strapazen an ihm zehrten: er war noch vergesslicher als sonst, hatte Mühe, konzentriert zuzuhören und reagierte sehr launisch, wenn er etwas vergessen hatte. Der Umgang meiner Eltern miteinander verhärtete leider zusehens.
Die Unterstützung meiner Eltern für uns und unser Projekt stand jedoch nie außer Frage: uns wurde geholfen und unterstützt, wann sie konnten.

Voller Freude und auch Stolz genossen meine Eltern die Taufe von Mats und das anschließende Abschiedsfest auf der Jugendfarm. Die Stimmung war trotz allen Abschiednehmens gelöst, voller Aufbruch und Bewegung.
Am nächsten Morgen kam dann der Anruf von meinem Vater.

Die folgenden Wochen als chaotisch zu beschreiben mag einen Teil des erlebten abdecken, aber reicht bei weitem nicht aus, das Hin- und Her, die emotionalen und strukturellen Belastungen von Wiebke und mir und den Kindern zu beschreiben. Letztlich konnten wir nach Zeichen der klinischen Besserung mit einem gewissen Optimismus am 12. Mai nach Afrika fliegen. Am Ende kam alles ganz anders.

Einsam am Plärrer.

Auf dem Rückflug aus Nürnberg nach der Beerdigung meiner Mutter hatte ich bei all der Trauer nur einen Wunsch für meinen Vater: dass er wieder zurück in ein „gutes Leben“ finden, seine Zeit mit Freunden und Hobbies füllen und nicht an der Trauer zerbrechen könne. Meine größte Angst war, dass er sich allein fühlt.

Gottlob, und ich bin so vielen Menschen so unendlich dankbar dafür, dass ich das hier schreiben kann, gottlob war meine größte Sorge unberechtigt: ich glaube und hoffe, dass mein Vater sich in den folgenden Monaten so gut wie nie einsam gefühlt hat. Das liegt an den großartigen Freunden und Nachbarn, die sich alle regelmäßig, herzlich und aufopferungsvoll um ihn gekümmert haben. An seiner Schwägerin, die immer, Tag und Nacht, für ihn da war und seine Launen aushielt. Manchmal, wenn er am Telefon erzählte, was er so alles gemacht hatte, kam in mir das Gefühl auf, dass er das Leben noch einmal völlig neu entdeckt; ein bisschen so wie früher, vor der Familiengründung, vor dem dem Bandscheibenvorfall, losgelöst und frei und offen im Alltag und mit Freunden. Regelmäßiges Schafkopfen, Spaziergänge, Essen gehen mit dem Nachbarn, Studientreffen mit den alten Kollegen aus dem Studium an der TU München, regelmäßig von der Nachbarschaft zum Essen eingeladenm werden. Und wir haben es geschafft, fast jeden Abend mit einander zu telefonieren, eine schöne Routine, die aber auch meine Familie belastet hat, denn gerade jetzt im Rückblick merke ich immer mehr, wie ich mit halben Geist und halber Seele in Nürnberg hing, was das  Ankommen in der völlig anderen Welt Lindi nicht vereinfachte.

Jetzt im Nachgang ist mir auch klar, wie mich mein Vater in diesen Gesprächen schützte: wie er immer positiv von seiner körperlichen Situation sprach und den leider zunehmenden Verfall ausblendete. Als er an einem Abend plötzlich nebenbei erzählte, dass er nun ein Heimsauerstoffgerät verschrieben bekommen hätte, wurde ich nervös. Nur durch Gespräche mit den behandelnden Ärzten fand ich über die massive Zunahme der Lungenmetastasen und leider auch die inzwischen gefundenen Lebermetastasen heraus. Wir buchten einen Flug für Anfang Dezember, um mit der ganzen Familie noch einmal bei ihm zu sein und uns von ihm verabschieden zu können.

Leider hat die Zeit dafür nicht gereicht. Ende November ging es ihm innerhalb weniger Tage immer schlechter und er ließ sich an einem Donnerstag Abend ins Krankenhaus einliefern. Am Freitag kam noch eine optimistische SMS, aber die Informationen des Stationsarztes, ein Studienkollege, den ich nach langer Recherche erreicht hatte, waren deutlich pessimistischer. Also saß ich Samstag um 16 Uhr im Bus nach Daressalam, Wiebke war am morgen des gleichen Tages von ihrem Besuch bei der Standesamtlichen Hochzeit ihres Bruders zurück gekommen. Mit viel Glück erreichte ich nach mehreren Buspannen und einem Totalschaden 2km vor Daressalam mit einem Taxi den Flughafen, zwischen Ankommen und im Flugzeug sitzen lagen nur 24 Minuten. Am nächsten Morgen war ich bei meinem Vater, der mich mit einem Seufzer der Erleichterung erkannte und umarmte. Danach fiel er in einem unruhigem Schlaf, ich konnte ihn in seinem Zimmer noch die nächsten 32 Stunden begleiten, bis er Montag nachmittag friedlich einschlummerte.

Im Krankenhaus

Am Vormittag hatte mich noch eine Psychologin der Krebsstation besucht, die ich zufällig seit vielen Jahren kannte und mit der ich über 1 Stunde ein sehr hilfreiches Gespräch führen konnte. Dennoch war das alles so unglaublich unwirklich, ganz nah, und doch so weit weg. Der letzte, wahrscheinlich essentiellste Teil meiner Wurzeln, meines Kindseins, meiner Persönlichkeitsentwicklung, meiner Sozialisierung, war nun verschwunden. Ein zentraler Ansprechpartner, die letzte Wiese, trotz allen Uneinigkeiten doch als letzte Bastion im Hintergrund, was wie so oft im Leben erst klar wird, wenn sie nicht mehr da ist. Plötzlich bin ich der „Familienälteste“, mangels direkter Verwandtschaft abgesehen von meiner eigenen Familie und meiner lieben Großtante irgendwie allein auf weiter Flur, allein mit Entscheidungen, Erlebnissen. Klar ist die eigene Familie da und ich weiß auch, dass ich auf die Schwiegerfamilie jederzeit voll und ganz zählen kann, aber das ist etwas anderes. Da war seit meiner Kindheit immer jemand da, für Fragen und letzte Entscheidungen, und jetzt ist er weg.

Die folgenden Tage und Wochen verschmelzen in meiner Erinnerung zu einem wirren Konglomerat aus Flughafentransit, Koffer einpacken auspacken umpacken, nach drei Tagen Lindi wieder zurückfliegen, Elternhaus verräumen, bei den Schwiegereltern leben und doch weg sein, Weihnachten erleben wie einen Film im Fernseher im Nachbarraum, immer wieder für ein paar Tage allein im Elternhaus wohnen, in Vergangenheit eingehüllt und erfüllt von meinen Eltern, Maklerlogistik, Umzugsunternehmen, Silvester, und Zack wieder zurück in Lindi. Als wären wir nie weg gewesen und trotzdem ist die Welt eine völlig andere.

Einige Bruchstücke:
das von meinem Vater sechs Tage zuvor noch für die Enkel weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer mit seinen geliebten Orchester-Engeln, die perfekt vorbereiteten Unterlagen zu allem (Rente, Versicherung, Grab, Haus, Versicherungen) als letztes Zeichen seiner aufopferungsvollen Liebe, ein Gefühl, dass mich greifbar in den Tagen nach seinem Tod im Elternhaus erfüllt hat; der verspätete Abflug aus Nürnberg, weil es für 5 startende Maschinen nur 3 Enteisungsmaschinen gibt, ein Hotel zur Übernachtung in Dar wie aus BladeRunner, auf der Veranda sitzen und schwitzen, in Amsterdam durch das Schneetreiben fahren, dabei unwirklich im eigenen und doch fremden VW-Bus sitzend. Elternhaus. Versicherungsabwicklungen. Trauerfeier mit über 50 teils weit gereisten alten Weggefährten aus Schule, Studium, Arbeit, Wanderverein. Ähnlich wie bei meiner Mutter. Sie standen beide im Leben. Das stimmt mich froh und macht mich traurig zugleich. Ständige Ambivalenz. Aber eine Sache ist sicher: ihr fehlt mir beide unendlich. Das war alles viel zu früh.

Mit den Worten von Radiohead:

I jumped in the river, what did I see?
Black-eyed angels swam with me
A moon full of stars and astral cars
And all the figures I used to see

(p)

Früher. Wahrscheinlich am Untreusee in Hof, Saale.

Weil es mit Musik immer besser ist, hier noch eine Anmerkung:

der Titel des Beitrags ist auch gleichzeitig ein Stück von Matthew and the Attic, die wir bei Folk im Park kennenlernen dürften. Video hier , Lyrics hier:

Love, I know, it’s been a long, long year
What we lived in the flicker of the light
I hung those feathers like hair upon your shoulder

Best not untethered our bodies to the ground

Like a flightless bird on a wide-winged hope
Cradled by the dawn
The afterglow, a mothers‘ love
A deer trail in the snow

I keep the static playing on the radio
You move through the room
With a misty halo

Like a flightless bird on a wide-winged hope
Cradled by the dawn
The afterglow, a mothers‘ love
A deer trail in the snow
And we unfold to the edge of it
A crimson sky hangs low
A rush of blood, a … blow
A deer trail in the snow

Like a flightless bird on a wide-winged hope
Cradled by the dawn
The afterglow, a mothers‘ love
A deer trail in the snow
And we unfold to the edge of it
A crimson sky hangs low
A rush of blood, a … blow
A deer trail in the snow

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